: Bertrand Russell
: Macht
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783905811469
: 1
: CHF 7.00
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: Philosophie, Religion
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Bertrand Russell (1872-1970) war Mathematiker und als solcher, was seine philosophischen Neigungen anbelangt, zunächst an der Ergründung einer Prinzipienlehre als Grundlage einer 'Universalmathematik' interessiert. Als sein philosophisches Hauptwerk gilt dem gemäß auch ganz folgerichtig das gemeinsam mit seinem Lehrer Alfred North Whitehead verfasste dreibändige Werk Principia mathematica (1910-1913). Doch früh schon wandte sich Russell populär- und sozialphilosophischen Themen zu. Letzteren auch als 'Aktivist', was ihm neben dem Verlust seiner Dozentur in Cambridge 1918 eine sechsmonatige Gefängnisstrafe einbrachte. Nicht nur hatte er öffentlich und vehement die Beendigung des Ersten Weltkrieges gefordert, er hatte darüber hinaus lautstark und kompromisslos zur Kriegsdienstverweigerung aufgerufen. Von dieser brennenden Jugendlichkeit ist das gesamte sozialphilosophische Werk geprägt. Neben dem mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Essay Ehe und Moral (1950) insbesondere die ebenso kraftvoll-naive wie hellsichtig-analytische Studie Macht aus dem Jahre 1938, die der Europa Verlag nun neu aufgelegt hat. In 18 Kapiteln analysiert Russell den menschlichen Machttrieb, seine institutionellen Manifestationen, das Verhältnis von Führern und Geführten, das Phänomen der nackten Gewalt und auch subtile Formen der Macht, wie die wirtschaftliche oder jene über die (öffentliche) Meinung. Und auch wenn das globale Organisationsmodell, das Russel als Ausweg aus der Macht-Falle anbietet, als in jeder Hinsicht überholt gelten dürfen sollte, seine Einsichten in die Strukturregeln von Machtverhältnissen sind dies zweifellos nicht. Und seine grundsätzlichen Überlegungen zu den anthropologischen Ursachen, Bedingungen und Konsequenzen des Phänomens der Macht als eines der zentralen gesellschaftlichen Probleme lohnen nach wie vor die Lektüre. --Andreas Vierecke -- Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.


DER TRIEB ZUR MACHT


Zwischen dem Menschen und anderen tierischen Wesen gibt es einige Unterschiede, von denen die einen intellektueller, die anderen emotionaler Natur sind. Eine der wesentlichen gefühlsmäßigen Differenzen besteht darin, dass gewisse menschliche Begierden, ungleich den tierischen, durchaus grenzenlos und niemals gänzlich zu befriedigen sind. Die Boa constrictor schläft nach der Mahlzeit bis zum Wiedererwachen des Hungers; wenn andere Tiere anders handeln, so weil ihre Mahlzeiten weniger umfangreich sind oder weil sie Feinde fürchten. Die Handlungen des Tieres werden, mit wenigen Ausnahmen, von den ursprünglichen Bedürfnissen des Überlebens und der Fortpflanzung bestimmt und überschreiten nicht die Grenzen des durch diese Bedürfnisse Notwendigen.

Anders ist es mit den Menschen. Es trifft sicherlich zu, dass ein großer Teil der Menschheit gezwungen ist, so schwer zu arbeiten, um das Notwendigste zu erhalten, dass nur wenig Energie für andere Ziele übrig bleibt; aber jene, deren Lebensunterhalt gesichert ist, hören deshalb nicht auf, tätig zu sein. Es mangelte Xerxes weder an Nahrung noch an Kleidung noch an Frauen, als er sich einschiffte, um gegen Athen zu ziehen. Newton war eines angemessenen Lebens sicher von dem Augenblick an, da er zu einem Fellow of Trinity wurde, aber es war nach dieser Zeit, dass er die Principia schrieb. Der Heilige Franziskus und Ignatius von Loyola mussten keine Orden gründen, um der Not zu entgehen. Diese alle waren hervorragende

Männer, aber die gleichen Züge finden wir in wechselnder Stärke bei allen, ausgenommen eine kleine, ungewöhnlich träge Minderheit. Mrs. A, die des geschäftlichen Erfolges ihres Mannes durchaus sicher ist und keine Angst vor dem Armenhaus hat, wünscht besser gekleidet zu sein als Mrs. B, obwohl sie die Gefahr einer Lungenentzündung auf viel billigere Weise vermeiden könnte. Sowohl sie als auch Mr. A freuen sich, wenn er zum Ritter geschlagen oder ins Parlament gewählt wird. In Tagträumen ist dem imaginären Triumph keine Grenze gesetzt, und wenn sie als möglich angenommen werden, wird die Anstrengung folgen, sie zu verwirklichen.

Vorstellung ist der Stachel, der menschliche Wesen in pausenlose Bemühungen treibt, sobald ihre nächstliegenden Bedürfnisse befriedigt sind. Die meisten von uns haben nur seltene Momente gehabt, in denen sie sagen durften:

 

Gält' es jetzt zu sterben,

Jetzt wär mir's höchste Wonne; denn ich fürchte