Eberhard StraubZur Einführung
Während des Ersten Weltkrieges hatte sich die Vorstellung von Europa als geistig gesicherter Selbstverständlichkeit aufgelöst. Zum ersten Mal in ihrer gemeinsamen Geschichte faßten die Europäer einen Krieg untereinander als erbitterten Kulturkampf auf. Selbst die heftigen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit den Konfessionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts hatten die gesellschaftliche Einheit Europas nicht erschüttern können. Die internationale Aristokratie und wer ihr diente, Maler, Musiker, Gelehrte oder Dichter, die vornehme Welt und deren Interpreten waren nicht dazu übergegangen, einen perfekten Kavalier allein nach seinem Glaubensbekenntnis zu beurteilen oder gar zu verurteilen. Religion wurde zur Privatsache, die schönen Sitten, adeliger Anstand und guter Geschmack blieben eine verbindliche und öffentliche, eine vor-staatliche, gesellschaftliche Macht, die ihre Grundsätze gefälliger Lebensformen in einem langen Abwehrkampf zu behaupten wußte.
Um 1900 mußte ein europäischer Gedankenaustausch nicht eigens organisiert werden. Trotz lebhaft konkurrierender Nationalismen kannte sich der Adel der Herkunft, des Geistes und der etwas zweifelhafte des Geldes untereinander, besuchte sich oder setzte in zahllosen Briefen ein imaginäres Gespräch fort. Ein Netz von Freundschaften, erotischen Passionen oder zwanglosen Bekanntschaften hielt dieses „vergesellschaftete" Europa zusammen, dem am unteren Ende die Internationale der Arbeiterschaft entsprach, die ihre Aufgabe darin erkannte, sich diesem Europa der Europäer einzufügen. Diese Welt zerbrach an den wechselseitigen politischen und ideologischen Schuldzuweisu