: Tatjana Böhme-Mehner
: Warten auf den Vater Erinnerungen an Ibrahim Böhme
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958902756
: 1
: CHF 11.50
:
: Zeitgeschichte (1945 bis 1989)
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
22. November 1999: Mein Vater ist tot. Gegen sieben Uhr morgens klingelte das Telefon. Es war die Todesnachricht. Ich wusste schon vorher, dass sie es ist. Nicht, dass ich sie erwartet hätte. Nicht mehr jedenfalls als an irgendeinem anderen Morgen in den letzten Jahren. Obwohl die Nachricht an sich zu erwarten war: Schlecht ging es ihm, seit er sich endgültig aus der Öffentlichkeit verabschiedet hatte. Ein kleines Ende war seither jede unserer Begegnungen gewesen. Im freien Fall von der Lichtgestalt zum enttarnten Spitzel - ich war beiden gegenüber skeptisch. Doch nun ist er tot; und ich frage mich, wer dieser Mensch war. Manfred oder Ibrahim? Dissident oder gemeiner Stasi-Spitzel? Weltflüchter oder Realist? Arbeiter oder Intellektueller? Tragischer Held oder Clown? Ich bin mir nicht sicher. Tatjana Böhme-Mehner schildert in Warten auf den Vater die außergewöhnliche Beziehung zu ihrem Vater Ibrahim (Manfred) Böhme, der 1978 aus der SED ausgeschlossen und mehrere Monate inhaftiert und 1990 zum Vorsitzenden der neu formierten Ost-SPD gewählt wurde. Er galt als aussichtsreicher Bewerber um den Posten des DDR-Ministerpräsidenten. Nach seiner Enttarnung als inoffizieller Mitarbeiter der Stasi zog sich Böhme aus der Öffentlichkeit zurück. Die Autorin entwickelt anhand realer Erinnerungen das schwierige Verhältnis zu einem irrealen Vater, der immer unterwegs und selten für die Tochter greifbar war; sie entwirft exemplarisch ein faszinierendes Bild vom Alltag in der ostdeutschen Provinz vor und nach der Wende und zeigt, welche tiefen Wunden der radikale Umbruch und die Überwachung durch die Staatssicherheit hinterlassen haben.

Tatjana Böhme-Mehner, Jahrgang 1976, studierte Musikwissenschaft und Journalistik an der Universität Leipzig und promovierte 2003. Es folgten Forschungsaufenthalte und Lehrverpflichtungen in Leipzig, Paris, Halle und Weimar. Ab 1992 war sie als freie (Musik-) Publizistin und Autorin für diverse Medien tätig und betrieb Forschungen zur musikalischen Kulturgeschichte und zur Musik der Gegenwart. Seit 2015 arbeitet sie in einem mehrsprachigen Team als Programme Editor in der Philharmonie Luxembourg und lebt im Saarland.

ANSTELLE EINES VORWORTS:


Todesnachrichten kommen nie zur rechten Zeit


22. November 1999


Mein Vater ist tot. Gegen sieben Uhr morgens hat das Telefon geklingelt. Es war die Todesnachricht. Ich wusste schon vorher, dass sie es ist. Nicht, dass ich sie erwartet hätte. Nicht mehr jedenfalls als an irgendeinem anderen Morgen in den letzten – wie vielen eigentlich? – Jahren. Obwohl die Nachricht an sich zu erwarten war: Schlecht ging es ihm, seit er sich endgültig aus der Öffentlichkeit verabschiedet hatte. Seit einigen Jahren wunderte ich mich, wie schlecht es einem Menschen gehen konnte, ohne dass er daran tatsächlich starb; wie schlecht es einem gehen musste, bis man daran sterben konnte. Denn eigentlich war es wohl das, was er erreichen wollte, mit dem, was er tat – oder ebenso nicht tat: sterben. Ich fragte mich, wie viel man trinken, rauchen, leiden konnte, ohne dass es das endgültige Ende bedeutet hätte. Ein kleines Ende war seither jede unserer Begegnungen gewesen. Im freien Fall von der Lichtgestalt zum enttarnten Spitzel – ich war beiden gegenüber skeptisch. Doch nun ist er tot; und er ist mein Vater.

Er war mein Vater. Bis ich mich dieser Tatsache ohne Skrupel und mit der nötigen Selbstsicherheit immer und überall stellen kann, dauert es noch mehr als ein Jahrzehnt – zu emotional ist meine Umwelt noch, bezogen auf das Reizwort »Stasi«, bezogen auf die ganze, nie wirklich aufgearbeitete Wendegeschichte, letztlich bezogen auch auf ihn. So viel Verachtung für den Verräter – durchaus nachvollziehbar. Und andererseits ist immer noch eine seltsame Faszination zu spüren, der manch einer seiner alten Freunde nach wie vor anzuhängen scheint. Mit mir hat beides eigentlich nicht viel zu tun, und doch prägt es das, was ich hier erlebe. Angst haben mir beide Seiten gemacht, seit sie in mein Bewusstsein gedrungen sind.

Wirklich greifbar ist mein Vater nie gewesen, auch in den Momenten nicht, in denen ich ihn tatsächlich anfassen konnte. Da vielleicht überhaupt am wenigsten. Zu unsicher bin ich in dieser Zeit – bezogen darauf, was passieren würde, wenn ich die Flucht nach vorn ergriffe, wenn es um den Spitzel Böhme geht, der mein Vater war. Auf Nachfrage verschweige ich ihn nicht; das habe ich nie getan. Doch noch bin ich nicht mutig genug, per se zu sagen, wie das mit meiner Familie ist. Kein Wunder: Ich bin in der DDR groß geworden.

Vielleicht hätte ich viel früher auf mein Gegenüber zumarschieren sollen, offensiv, handschüttelnd: »Guten Tag, ich bin Tatjana Böhme(-Mehner), seit x Jahren schreibe ich vor allem über Musik. Nichtsdestotrotz bin ich