: Rüdiger Sünner
: Engel über Europa Rilke als Gottsucher
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958902558
: 1
: CHF 11.50
:
: Psychologie, Esoterik, Spiritualität, Anthroposophie
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Rainer Maria Rilke (1875-1926) war nicht nur einer der größten deutschen Dichter, sondern auch ein 'Gottsucher', der jedoch ganz eigene Wege ging. Abgeschreckt vom bigotten Katholizismus seiner Mutter, wandte er sich zunächst vom Christentum ab und suchte Inspirationen auf andere Weise. In München-Schwabing traf er um 1900 auf Künstler, Esoteriker und Anthroposophen, die ähnlich wie er auf der Suche nach individuellen spirituellen Erfahrungen waren, darunter Paul Klee, Franz Marc, Stefan George und Rudolf Steiner. Rilke suchte das 'Göttliche' nicht in fernen transzendenten Himmeln, sondern im 'Hiesigen': in der Magie der Natur und in der Aura einfacher Alltagsdinge, die er in einer unnachahmlichen Sprache zu beschreiben wusste. In seinem Buch zeigt Rüdiger Sünner, dass Rilke auch heute noch die Bedürfnisse vieler Menschen anspricht, die - enttäuscht von traditionellen Religionen - auf der Suche nach dem sind, was seit Tausenden von Jahren mit der Metapher 'Gott' umschrieben wird. Rilke nähert sich dem subtil an, ist undogmatisch, auch im Kampf mit den dunklen Seiten Gottes. Und er ist aufgeschlossen gegenüber spirituellen Traditionen, befragt Buddhismus, Islam, ägyptische und griechische Mythen und sogar okkulte Strömungen wie Theosophie und Spiritismus. Ein aufgeklärter Europäer, offen für die Traditionen der Mystik, der wichtige Inspirationen schenken kann.

Rüdiger Sünner, geb. 1953 in Köln, studierte Musik, Musikwissenschaften, Germanistik und Philosophie. 1985 promovierte er über die Kunstphilosophie von Theodor W. Adorno und Friedrich Nietzsche. Anschließend studierte er an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Seit 1991 lebt er als freier Autor, Filmemacher und Musiker in Berlin. Seine vielfältigen Publikationen und Filme beschäftigen sich vor allem mit Grenzgebieten und Spiritualität.

DAS LAUSCHEN MEINES VATERS


»Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,

du mein tieftiefes Leben;

daß du weißt, was der Wind dir will,

eh noch die Birken beben.

Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,

laß deine Sinne besiegen.

Jedem Hauche gieb dich, gieb nach,

er wird dich lieben und wiegen.

Und dann meine Seele sei weit, sei weit,

daß dir das Leben gelinge,

breite dich wie ein Feierkleid

über die sinnenden Dinge.«1

Dieses Gedicht war das Erste, was ich von Rainer Maria Rilke hörte. Mein Vater, dessen Lieblingsdichter Rilke war, las es gelegentlich laut vor, und sein Tonfall und seine Augen versuchten dabei, das Staunen des Dichters wiederzugeben. Ich war vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt und eher unangenehm davon berührt, denn ich glaubte meinem Vater die raunend vorgetragenen Worte nicht. Es klang für mich nicht echt, eher wie eine Attitüde, das Zurschaustellen bildungsbürgerlichen Wissens. Mein Vater hatte auch die gesammelten Werke von Goethe und Schiller im Bücherschrank stehen, NietzschesZarathustra sowie viele kleine Insel-Bände mit schönen Texten und Gedichten. Aber ich sah ihn nie wirklich darin lesen und spürte auch nicht, dass er sich jemals ernsthaft in diese Literatur vertieft hatte.

Wenn mein Vater seine Liebe zu Rilke beschwor, vergaß er nie zu erwähnen, dass er dessen Gedichte im Zweiten Weltkrieg im Tornister mitgetragen hatte. Auch das befremdete mich. Ich kannte Rilke kaum, spürte aber in seinen Versen eine große Feinfühligkeit, ein tastendes Suchen, eine Zartheit in der Natur- und Menschenbeobachtung, die ich nicht mit dem Alltag eines Krieges zusammenbringen konnte. Hatte mein Vater in den Gefechtspausen Rilkes Verse gelesen, zur Ablenkung oder um von schönen Worten inmitten der Gräuel des Schlachtfeldes aufgebaut zu werden?

Er war immerhin Unteroffizier gewesen, eine Führungspersönlichkeit, hatte sich als Soldat bewährt und auch später nie ein kritisches Wort zu Hitler und