: Ruth Ozeki
: Die leise Last der Dinge Roman | 'Ein kluges, empathisches, ein bisschen schräges und sehr menschenfreundliches Buch.' Berliner Zeitung - Gewinner des Women's Prize for Fiction
: Eisele eBooks
: 9783961611508
: 1
: CHF 13.50
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 688
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Ein Triumph!« MATT HAIG, Autor von 'Die Mitternachtsbibliothek' Hast du je darüber nachgedacht, dass auch Bücher Gefühle haben?  Ein Jahr nach dem Unfalltod seines Vaters beginnt der dreizehn Jahre alte Benny Oh Stimmen zu hören. Es sind die Stimmen der Gegenstände in seinem Zuhause - seine Sneakers, eine zerbrochene Weihnachtskugel, ein Blatt welker Salat. Gleichzeitig beginnt seine Mutter Annabelle, Dinge zu horten, bis es kaum mehr einen freien Platz auf dem Fußboden oder in den Regalen ihres Hauses gibt.  Mutter und Sohn drohen in ihrer Trauer den Halt zu verlieren - bis sie auf ein Buch stoßen, das sie womöglich zu retten imstande ist ... Mit liebenswerten Figuren, einer fesselnden Geschichte und der Auseinandersetzung mit den Themen Trauer, Erwachsenwerden und unser Verhältnis zu materiellen Dingen legt die Booker-Preis-nominierte Ruth Ozeki einen klugen, verspielten, mitreißenden, herzerwärmenden und absolut einzigartigen Roman vor.  Ausgezeichnet mit dem Women's Prize for Fiction 'Tiefgründig und unterhaltsam zugleich.' - USA Today 'Ozeki ist eine Autorin mit viel Fantasie und einem subversiven Sinn für Humor. ' Los Angeles Times

Ruth Ozeki ist Romanautorin, Filmemacherin und zen-buddhistische Priesterin. Für ihre Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet und schaffte es mit ihrem Roman Geschichte für einen Augenblick, übersetzt in 28 Sprachen, auf die Shortlist des Booker Prize. Zuletzt erhielt sie für ihren neuen Roman Die leise Last der Dinge den Women's Prize for Fiction 2022. Sie ist Mitglied der Everyday Zen Foundation und lebt in West-Massachusetts, wo sie Kreatives Schreiben am Smith College lehrt.

Das Buch

1

Beginnen wir also mit den Stimmen.

Wann hat er sie zum ersten Mal gehört? Als er noch klein war? Benny war schon immer ein kleiner Junge, der sich nur langsam entwickelte, so als sträubten sich seine Zellen dagegen, sich zu vermehren und in der Welt Raum einzunehmen. Als er zwölf wurde, scheint er mehr oder weniger zu wachsen aufgehört zu haben, im selben Jahr, in dem sein Vater starb und seine Mutter anfing, Gewicht zuzulegen. Die Veränderung war unauffällig, aber es schien, als würde Benny im selben Maß schrumpfen, in dem seine Mutter zunahm, als würde sie sich den Kummer ihres kleinen Sohns mit einverleiben.

Ja. So war es wohl.

Vielleicht begannen die Stimmen also auch damals, kurz nachdem Kenny gestorben war? Er wurde bei einem Autounfall getötet – nein, eigentlich wurde er von einem Lastwagen überrollt. Kenny Oh war Jazz-Klarinettist, hieß aber in Wirklichkeit Kenji, also wollen wir ihn auch so nennen. Er spielte meistens Swing, Big-Band-Sachen, auf Hochzeiten und Bar Mitzwas und in angesagten Hipster-Clubs downtown, wo die Typen alle Bärte und Pork-Pie-Hüte trugen, karierte Hemden und mottenzerfressene Tweedjacken von der Heilsarmee. Nach einem seiner Gigs war er noch ausgegangen, um zu trinken oder sich was reinzupfeifen oder was er sonst so mit seinen Musikerfreunden machte – nur ein kleines bisschen Koks vielleicht, aber es muss wohl so viel gewesen sein, dass er, als er auf dem Heimweg stolperte und hinfiel, keine Notwendigkeit sah, gleich wieder aufzustehen. Er war nicht mehr weit von zu Hause entfernt, nur ein paar Meter noch bis zu dem klapprigen Tor, das zur Rückseite seines Hauses führte. Wenn er es geschafft hätte, ein Stück weiter zu kriechen, wäre ihm nichts passiert, aber stattdessen blieb er einfach auf dem Rücken liegen, im trüben Lichtkegel einer Straßenlaterne neben dem Müllcontainer vor dem Secondhandladen der Gospel Mission. Die langen kalten Wintertage neigten sich dem Ende zu, und in der Gasse hing der Frühlingsnebel. Er lag da, starrte hinauf ins Licht und in die winzigen Nebeltröpfchen, die glitzernd durch die Luft tanzten. Er war betrunken. Oder high. Oder beides. Das Licht war wunderschön. Er hatte sich am frühen Abend mit seiner Frau gestritten. Vielleicht tat ihm das jetzt leid. Vielleicht nahm er sich im Geiste vor, sich zu bessern. Wer weiß schon, was er in diesem Moment tat? Vielleicht schlief er auch ein. Hoffentlich. Jedenfalls hat er dort noch gelegen, als ungefähr eine Stunde später ein Lastwagen die Gasse entlangratterte.

Der Fahrer konnte nichts dafür. Die Gasse war voller Spurrillen und Schlaglöcher. Sie war mit halb ausgeleerten Müllbeuteln, Essensabfällen, vollgesogenen Kleiderbündeln und kaputten Haushaltsgeräten übersät, die die Mülltaucher zurückgelassen hatten. Im fahlen grauen Licht der nebligen Morgendämmerung konnte der Fahrer zwischen dem Abfall und dem schlanken Körper des Musikers, der mittlerweile von Krähen belagert war, nicht unterscheiden. Die Krähen waren Kenjis Freunde. Sie versuchten lediglich, ihm zu helfen, indem sie ihn warm und trocken hielten, aber jeder weiß, dass Krähen Abfall lieben. Ist es da ein Wunder, dass der Fahrer Kenji für einen Müllsack hielt? Der Fahrer hasste Krähen. Krähen brachten Unglück, und deshalb hielt er mit dem Laster direkt auf sie zu. Er hatte Kisten mit lebenden Hühnern für die chinesische Schlachterei am Ende der Gasse geladen. Er trat aufs Gaspedal und spürte, wie die Räder über den Körper hinwegrumpelten, während die Krähen direkt vor seiner Frontscheibe aufflogen und ihm die Sicht versperrten, sodass er die Kontrolle verlor und in die Laderampe der Eternal Happiness Printing Company Ltd. schlitterte. Der Lastwagen kippte um, und die Hühnerkisten flogen in hohem Bogen heraus.

Der Lärm von kreischenden Vögeln weckte Benny, dessen Zimmerfenster auf die Gasse hinausging. Er lag da und lauschte, dann schlug die Hintertür zu. Ein hoher, dünner Schrei stieg von der Gasse auf, entrollte sich wie ein Seil, schlängelte sich wie ein lebender Tentakel durch sein Fenster, packte ihn und zerrte ihn aus dem Bett. Er ging ans Fenster, zog die Vorhänge zur Seite und spä