: Dorota Danielewicz
: Der weiße Gesang Die mutigen Frauen der belarussischen Revolution
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958904804
: 1
: CHF 14.10
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: Biographien, Autobiographien
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wir alle kennen die Bilder von den Demonstrationen, die nach den letzten Wahlen im August 2020 in Belarus stattfanden. In vorderster Reihe bei den friedlichen Protestaktionen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit: viele, meist junge Frauen - darunter Journalistinnen, Studentinnen, Juristinnen, Sozialarbeiterinnen und Lehrerinnen. Mutig sahen sie den sie umzingelnden Polizisten in die Gesichter, ließen sich nicht einschüchtern - auch nicht nachdem zahlreiche von ihnen verhaftet, verhört, misshandelt und des Landes verwiesen wurden. In Der weiße Gesang erzählen einige von ihnen ihre Geschichte, treten heraus aus der Anonymität der Masse. Sie lassen uns teilhaben an den Ereignissen und ihren persönlichen Erfahrungen der letzten Monate, an ihrem Aufbegehren, ihren Zielen, ihrem Leben im Exil. Der sogenannte weiße Gesang ist eine archaische, volkstümliche Gesangstechnik der osteuropäischen Frauen, die es auf eine besondere Art ermöglicht, den Gefühlen freien Lauf zu lassen. Ihre Lieder spiegeln dramatische Ereignisse aus dem Leben der Frauen wider. Die Stimme, die beim weißen Gesang erzeugt wird, kommt direkt aus dem Solarplexus und nutzt die Resonanzräume des Körpers. Sie ist rein und wild - so wie die Geschichten der unerschrockenen, couragierten belarussischen Frauen, die in diesem Buch zu Wort kommen.

Dorota Danielewicz, Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin, wurde in Posen (Polen) geboren. 1981 siedelte sie in das damalige West-Berlin um. Sie studierte Ethnologie und Slawistik an der Freien Universität Berlin und an der Ludwig-Maximilians-Universitä München. Nach einem Aufenthalt in New York, wo sie für die Vereinten Nationen arbeitete, war sie als Rundfunkjournalistin knapp zwei Jahrzehnte für den RBB (früher SFB) tätig. Zehn Jahre arbeitete sie als Berlin-Korrespondentin von Radio France Internationale. Sie lebt in Berlin.

Iryna Novik (geb. 1970)

DIE FRAU MIT DEM ROTEN KLEID


Iryna Novik hat als Journalistin fürGrodno Live gearbeitet, bis das Portal 2021 geschlossen wurde. Iryna und ihre Kolleginnen und Kollegen haben nicht nur ihre Arbeit verloren, sondern die Stadt damit ein wichtiges Medium der freien Presse.Grodno Live wurde als extremistisch eingestuft und verboten. Iryna lebt inzwischen in Litauen. Ich habe Glück und kann sie in Berlin treffen, wo sie sich gerade auf Einladung von »Reporter ohne Grenzen« aufhält. In einem Café in der Winterfeldtstraße beginnt sie sogleich zu erzählen:

»Ich habe nach der Flucht beschlossen, aus dem Koffer zu leben. Zuerst war ich in Vilnius, dann bin ich ins georgische Batumi gezogen, dort an der Schwarzmeerküste ist es warm, und die Mieten sind niedriger als in Litauen. Mein Mann musste allerdings zu Hause bleiben, wegen seiner Therapien. Sein Gesundheitszustand erlaubt es ihm nicht, Belarus zu verlassen, er hat Krebs.

Mir persönlich geht es gerade etwas besser, nur die Nieren wollen nicht so recht, einmal im Monat brauche ich eine Chemo. Dort, wo ich gerade wohne, findet sich immer jemand, der mir helfen will. Aber ich bin oft unterwegs, es gibt so viele Einladungen und so viel zu tun. So wie jetzt gerade in Berlin. Das erste Mal im Leben, und vielleicht ist es auch das letzte Mal, kann ich Einladungen annehmen und reisen und dabei die unterschiedlichsten Menschen kennenlernen. Ich habe nur einen Koffer, da sind alle meine Sachen drin. Alle. Mein Lieblingskleid habe ich an.«

Irynas rotes Kleid macht sich gut in der in Weiß gehaltenen Einrichtung des Cafés. Weiß-Rot-Weiß, das sind die Farben der alten belarussischen Flagge, die oft auf den Demonstrationen nach der denkwürdigen Wahl im August 2020 auf den Straßen von Belarus zu sehen war. Heute kann man in Minsk von der Polizei angehalten, gar verhaftet werden, wenn man rot-weiß gestreifte Socken trägt.

In dem Café sitzen wir an einem weißen Tisch, Iryna leuchtet rot. Ihr Lieblingskleid ist von zeitloser Eleganz. Ein Kleid für viele Gelegenheiten. Nicht jede Frau kann Rot tragen, Iryna steht die Farbe. Die Schuhe, die sie dazu trägt, haben dicke Sohlen, sie wirken bequem. In der Zelle des Gefängnisses von Grodno hätte Iryna solche Schuhe gebrauchen können. Zwar wurde sie im Sommer verhaftet, aber sie musste drei Tage lang stehen, und das in ihrem Alter, mit 50, und unmittelbar nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war.

Ich frage, warum sie so hart bestraft wurde. Dabei ist mir bewusst, dass man in Belarus für vieles bestraft werden kann, auch für Taten, die man nicht begangen hat. Aber warum musste Iryna Novik in Haft? Um mir zu erklären, wie es dazu kam, kehrt die Journalistin in die Zeit vor ihrer Verhaftung zurück.

»Vor drei Jahren habe ich zusammen mit zwei anderen Journalisten das Port