KAPITEL 1
Heimatlos
Meine Eltern entstammten beide wohlhabenden Familien aus Siebenbürgen, einem Gebiet, das heute im Zentrum Rumäniens liegt. Die Kolfs hatten ihr Vermögen mit Finanzgeschäften und Ländereien gemacht, die Wagners im Viehhandel. Beide Familien lebten keine zehn Kilometer voneinander entfernt in der Nähe von Kronstadt. Vielleicht hatten die Eltern oder Großeltern schon mal miteinander zu tun gehabt, Martin und Lieselotte aber kannten sich nicht – bis zu ihrer schicksalhaften Begegnung in Frankfurt an der Oder im Dezember 1946.
Ich war vielleicht 13 oder 14, als ich meinen Tata zum ersten Mal nach seinen Erlebnissen in den Kriegsjahren fragte. Bei diesem wie auch meinen späteren Versuchen, ihm etwas zu entlocken, antwortete er immer mit dem gleichen Satz: »Fuschi, das war so schrecklich, darüber kann ich nicht sprechen.« Er, der sonst so redselige Vater, schwieg eisern.
Es war nicht so wie später bei den 68ern: Auch sie fragten ihre Eltern, vor allem die Väter, was sie im Krieg gemacht hatten. Aber deren Weigerung, darüber zu sprechen, ließ meistens auf den Typus Täter oder Mitläufer schließen, oder wenigstens auf eine Angehörigkeit zur Wehrmacht. Bei meinem Vater war es die Opferrolle, über die er nicht reden mochte. Er muss Furchtbares erlebt und gesehen haben.
Das Wenige, das ich in Erfahrung bringen konnte, ist Folgendes: Als alliierte Soldaten im April 1945 die »Reichswerke Hermann Göring« im niedersächsischen Salzgitter befreiten, war unter den tausenden ausgemergelten, ausgelaugten und bis auf die Knochen abgemagerten Zwangsarbeitern auch mein Vater. In dem Betrieb, in dem kriegswichtige Güter hergestellt wurden, vor allem Munition und Sprenggranaten, hatte er als Feinmechaniker gearbeitet – ein Arbeitssklave ohne Rechte, mit kaum mehr als einer wässrigen Suppe am Tag abgespeist. Die Ernährungslage der tausenden Elenden war so schlecht, dass selbst derNSDAP-Kreisleiter eine Beschwerde nach Berlin sandte.
Wann und wie mein Vater von Kronstadt nach Salzgitter gekommen war – die Orte liegen ja nicht gerade um die Ecke – , und was vorher gewesen war, sagte er nicht. Und irgendwann habe ich aufgehört zu fragen und seinen Wunsch respektiert, nicht über das Schreckliche zu reden, was er damals erlebt hat.
War Martin Kolf zunächst, wie so viele Siebenbürger Sachsen, begeistert zum Auslandsableger der Hitlerjugend gegangen? Und später, als der rumänische Diktator Ion Antonesco an Hitlers Seite gegen die Sowjetunion kämpfte, Soldat geworden? Und noch später, weil er es nicht mehr ausgehalten hat, desertiert? Haben sie ihn aufgegriffen, irgendwo eingelocht, windelweich geschlagen und schließlich nach Salzgitter abgeschoben? Oder war es ganz anders, und er hatte sich, obwohl Mitglied der »Deutschen Volksgruppe in Rumänien« einer Rekrutierung zur Waffen-SS widersetzt und war deshalb als Zwangsarbeiter ins »Reich« abgeschoben worden?
Ich werde es nie erfahren. Und auch nicht, warum meine Großmutter ihm zum Abschied in Kronstadt Goldstücke in den Mantel genäht hat. Wohin hatte er sich da verabschiedet? Wo und wie das Gold jemals zum Einsatz kam, ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, dass sich mein Vater nach der Befreiung durch die Alliierten irgendwie nach Bayern durchschlug, wo er für kurze Zeit in einem Lager für »Displaced Persons« bei Wolfratshausen unterkam. Hier hatten die Nazis 1939 ein Lager für Zwangsarbeiter eingerichtet, die in zwei nahegelegenen Sprengstoff- und Munitionsfabri