[15] 1 Einleitung
Die erzieherische Ausbildung und das akademische Studium der Pädagogik bestanden in Deutschland bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein inhaltlich zu einem großen Teil aus der Kenntnis der Geschichte der Pädagogik, waren mitunter sogar beinahe mit ihr identisch. Das hatte mehrere Gründe. Der gewichtigste von ihnen bestand – historisch gesehen – darin, dass die Pädagogik als die Wissenschaft von der Erziehung ihre wissenschaftliche Eigengestalt erst gewinnen und sich als selbstständiges Wissenschaftsgebiet abgrenzen und darstellen konnte, als man begann, ihre Geschichte zu schreiben. Die Pädagogik entstand – und das lässt sich analog auch für andere Geistes- oder Kulturwissenschaften zeigen –, als eine eigenständige Disziplin, als Theologen und Pädagogen wie beispielsweise August Hermann Niemeyer (1754–1828) und Christian Heinrich Schwarz (1766–1837) daran gingen, aus dem verstreuten und weithin unbekannt gebliebenen historischen Material über die Erziehung früherer Zeiten eine in sich stimmige Geschichte zu konstruieren, welche gewöhnlich bei John Locke (1632–1704) und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) begann, über Comenius (1591–1670), Ratke (1571–1635), die Bildungsphilosophen der Renaissance bis in die griechische Antike zu Platon, Aristoteles, Sokrates und den Sophisten (als den ersten ‚professionellen‘ Lehrern) zurückführte.
1.1 Die Geburt der Pädagogik aus ihrer Geschichtsschreibung
Die Pädagogik konstituierte sich als Wissenschaft in einem erheblichen Maße erst durch ihre eigene Geschichtsschreibung, präziser gesagt: durch den Fortschritt von einer Sammlung beliebiger und vereinzelter Schul-, Erziehungs- und Fallgeschichten zu einer in sich stimmigen Geschichteder Pädagogik.
Dem entspricht es auch, dass der Wissenschaftsname ‚Pädagogik‘, welcher um das Jahr 1770 aufkam – nicht, wie man immer noch hören oder lesen kann, – von dem griechischen Wortpaidagogos (der Knabenführer) abgeleitet wurde, sondern von dem Begriffpaideia, den Platon in seinem utopischen StaatsentwurfPoliteia, einem bis heute maßgeblichen und nach dem Urteil Rousseaus sogar dem besten je über die Erziehung geschriebenen Buch prägte, um die Abrichtung und Ausbildung (griechisch:trophé) des Nähr- und Wehrstandes – in heutiger Sprache: der Arbeiter und Soldaten – deutlich von der Bildung der zum Führen und Leiten des Gemeinwesens berufenen[16] Philosophen – in heutiger Sprache: der Gebildeten – abzuheben. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), der bedeutende deutsche Platon-Übersetzer und einer der sogenannten ‚Begründer‘ einer wissenschaftlichen Pädagogik, verdeutschte Platonstrophé mit ‚Erziehung‘, fürpaideia setzte er den Begriff der ‚Bildung‘ in Umlauf.
1.2 Die vielen Gesichter der Geschichte der P