Kapitel 1
1970
Eva war gerade dabei, eine hellblaue Mustang-Jeans mit weit ausgestelltem Bein zurück ins Regal zu räumen, als ihre Kollegin Claudia sie von hinten antippte: »Du sollst sofort zum Alten kommen. Er will dich sprechen. Ich würde mich beeilen. Er sah ziemlich wütend aus.«
»Was will er denn?«
»Keine Ahnung. Aber an deiner Stelle würde ich ihn nicht lange warten lassen.«
Eva atmete tief durch, denn sie hatte bereits eine Vorahnung, weswegen Herr Kaltenfluss, Inhaber des gleichnamigen Jeans-Fachgeschäftes »mit Tradition«, sie in sein Büro bestellt hatte. Auf dem Weg dorthin legte sie sich deshalb gedanklich schon einmal passende Worte der Entschuldigung bereit.
Aber ob ihm das reichte? Wohl nicht. Kaltenfluss war ein unangenehmer Zeitgenosse und ein ziemlich jähzorniger Chef. Oft schon hatte er sie oder ihre Kolleginnen wegen absoluter Lappalien angeschnauzt und Eva durchdrang schon jetzt das dumpfe Gefühl, dass er ihr die gestrige Aktion wohl nicht verzeihen würde.
Sie musste einfach an sein soziales Gewissen appellieren und zeitgleich ihre weiblichen Reize, die sie zweifelsohne besaß und denen Herr Kaltenfluss im Allgemeinen sehr aufgeschlossen gegenüber war, in Szene setzen.
Also legte Eva einen kurzen Zwischenstopp im Personalraum ein, um ihr Aussehen noch einmal kritisch zu überprüfen.
Sie blickte in den großen Wandspiegel, über den Kaltenfluss ein Schild hatte anbringen lassen: »So sieht Sie der Kunde«.
Eva war zufrieden mit dem, was die Kunden und auch sie selbst sahen. Ihr lilafarbener Mini-Rock war frisch gebügelt und saß am Po knackig. Ihre braunen Overknee-Stiefel mit den Plateauabsätzen waren ordentlich geputzt und die rosa Rüschenbluse mit den kleinen lila Kornblumen darauf betonte ihre schlanke Taille und ihren üppigen, aber festen Busen geradezu ideal. Der schwarze Kajalstift, mit dem sie ihre strahlenden blauen Augen umrandet hatte, war noch unverschmiert und mit dem blass rosafarbenen Lippenstift, den sie noch schnell aus der Häkeltasche in ihrem Spind fischte, zog sie auch noch einmal ihre Lippen nach. Dann tupfte sie sich ein paar Spritzer ihres derzeitigen Lieblingsparfums Janine D. hinter die Ohren und positionierte die Haarspange, auf der eine Blume appliziert war, noch einmal akkurat in ihrem langen, glatt geföhnten, blonden Haar. Sie schaute in den Spiegel und ließ ihren Blick über ihren Körper gleiten. Perfekt! Das musste Kaltenfluss einfach milde stimmen. Und wenn nicht? Eva überlegte, was sie nun noch tun könnte. Schnell knöpfte sie ihre Bluse auf, öffnete den Verschluss ihres BHs und warf diesen zusammen mit ihrer Häkeltasche zurück in ihren Spind. Das Scheppern des Wandlautsprechers riss sie aus ihren Gedanken. »Fräulein Mayrhuber bitte umgehend 100. Fräulein Mayrhuber bitte!«
Es war Kaltenfluss persönlich. Jetzt musste sie sich aber wirklich beeilen.
Der Chef saß hinter seinem schweren Mahagoni-Schreibtisch und sah sie ziemlich wütend an. »Grüß Gott, Herr Kaltenfluss! Sie wollten mich sprechen?«
»Da sind Sie ja endlich, Fräulein Mayrhuber. Setzen Sie sich. Warum hat das denn so lange gedauert?«
»Entschuldigung, ich war noch in einem Verkaufsgespräch mit einer Kundin und wollte diese natürlich nicht einfach so stehen lassen.«
Eva setzte sich auf den Besucherstuhl, dem Chef direkt gegenüber. Sie bemühte sich, dieses möglichst sexy zu tun. Überschlug ihre Beine, fuhr sich mit der Hand noch einmal kunstvoll durch ihr Haar und beugte sich schließlich so weit nach vorne, dass Herr Kaltenfluss den einen oder anderen Einblick in ihr Dekolleté musste erhaschen können. Ihr attraktives Aussehen, verteilt auf 175 Zentimeter, war jetzt ihre einzige, wenn nicht sogar letzte Chance. Das war ihr klar. »Fräulein Mayrhuber. Wie lange sind Sie nun schon bei uns?«
»So ungefähr ein halbes Jahr«, sagte Eva.
»Diese Zeit sollte Ihnen doch eigentlich gereicht haben, sich mit den Gegebenheiten unseres Hauses vertraut zu machen, oder?«
»Ja, schon.«
»Sie wissen, dass ich Ihnen damit, Sie sofort in den Verkauf zu lassen, eine sehr große Chance gegeben habe? Schließlich sind Sie eine ungelernte Kraft.«
»Ja, ich weiß.«
»Und bisher waren nicht nur Ihre Abteilungsleiterin Frau Schmidt, sondern auch ich immer zufrieden mit Ihren Leistungen. Sie haben sich schnell eingearbeitet, immer gut verkauft und waren bei Kunden und Kollegen äußerst beliebt. Aber mit dem, was gestern passiert ist, haben Sie mein Vertrauen in Sie maßlos enttäuscht.«
»Herr Kaltenfluss. Lassen Sie es mich bitte erklären.«
Eva berichtete ihrem Chef von der alleinerziehenden, arbeitslosen Mutter, die mit ihren drei Kindern in den Laden gekommen war. Die ihr dann ihr Leid geklagt hatte, über ihre düstere Situ