Ein warmer, sonniger Nachmittag hatte alle Kinder von Sophienlust in den Park gelockt. Selbst die Großen hatten ihre Schularbeiten etwas verschoben, um das gute Wetter nutzen zu können. Sie saßen auf dem Rand des Springbrunnens oder vor dem Pavillon. Meistens hatten sie einander Geheimnisse zu erzählen, von denen die Kleinen noch nichts wissen sollten. Aber denen boten die Schaukel, die Rutsche und der Sandkasten Abwechslung genug.
Denise von Schoenecker stand etwas abseits und beobachtete ihre Schützlinge. Um ihre Lippen lag ein glückliches Lächeln. Es gab so viele Stunden, in denen sie dankbar für die Aufgabe war, die sie mit dem Kinderheim übernommen hatte. Die Arbeit wurde ihr nie zu viel, weil sie sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als armen vernachlässigten Kindern diesen Ort der Geborgenheit bieten zu können.
Schwester Regine kam durch den Park und riss sie aus ihren Gedanken. »Herr Dr. Roeder ist gekommen, Frau von Schoenecker. Er wartet im Empfangszimmer.«
Denise strich sich über die Stirn. »Beinahe hätte ich diesen Besuch vergessen. Zumindest habe ich nicht auf die Zeit geachtet. Bitte, bleiben Sie hier im Park, Schwester Regine, und passen Sie auf die Kleinen auf.« Sie lächelte. Dann ging sie schnell auf das Kinderheim zu.
Dr. Constantin Roeder, der Besitzer einer Klinik in Heilbronn, war ihr von Bekannten angemeldet worden. Sie war nun ein bisschen neugierig auf diesen Besucher.
Als sie das Empfangszimmer betrat, erhob sich ein großer schlanker Mann aus dem Sessel und kam auf sie zu. »Frau von Schoenecker?«, fragte er, und seine grauen Augen blicken Denise bewundernd an.
»Ja, die bin ich«, sagte sie. »Ich freue mich über Ihren Besuch, Herr Dr. Roeder. Bitte, kommen Sie mit in mein Zimmer, dort können wir uns ungestört unterhalten.«
Denise ging voraus, die Treppe hinauf in ihr Biedermeierzimmer, das sie sehr liebte.
Als sie sich gesetzt hatten, sagte sie: »Es geht also um Ihren kleinen Jungen, Herr Doktor.«
»Ja, um Rüdiger. Er ist fünf Jahre alt. Ich bin ein viel beschäftigter Arzt und kann mich wenig um meinen Sohn kümmern. Meine Wirtschafterin Malwine ist leider nicht mehr jung genug, dass sie sich auf den Jungen einstellen könnte. Zudem hat sie sehr viel Arbeit mit dem großen Haus und dem Garten. Meine Klinik liegt zwar neben dem Wohnhaus, aber oft kann ich es den ganzen Tag nicht ermöglichen, auf einen Sprung zu meinem Jungen zu gehen. Komme ich dann am Abend zurück, schläft er meistens schon.« Constantin Roeder strich sich über das braune Haar. Er sah bedrückt aus. »Leider habe ich auch niemanden, der Rüdiger in den Kindergarten bringt und wieder abholt. Dadurch kommt er kaum mit anderen Kindern zusammen. Das wirkt sich bei ihm schon aus. Er ist ein sehr zurückhaltendes Kind, um nicht zu sagen, schon fast schwermütig.«
Denise hatte aufmerksam zugehört. Jetzt wagte sie die Frage: »Seine Mutter ist gestorben?«
Dr. Roeder lehnte sich zurück, und sein Gesicht verhärtete sich sichtbar. »So viel wie gestorben«, antwortete er. »Ich musste mich schon vor längerer Zeit von meiner Frau trennen. Über die Gründe möchte ich nur ungern sprechen.«
»Sie sind also geschieden und der Junge wurde Ihnen zugesprochen«, stellte Denise fest.
»Nein, geschieden bin ich nicht, aber das Familiengericht hat die vorläufige Entscheidung getroffen, dass mein Junge bei mir bleibt. Ich werde das auch bei der Scheidung durchzusetzen wissen.«
Denise erschrak vor dem harten Klang in der Stimme ihres Besuchers. Sie nahm sich zusammen, um das nicht zu zeigen. Etwas nachdenklich sagte sie: »Für gewöhnlich nehmen wir nur Waisenkinder bei uns auf, aber ab und zu auch ein Kind, das zu Hause nicht die richtige Pflege hat, wenn die Mutter im Krankenhaus ist oder ähnliche Umstände eintreten.«
»Ich habe also keine Hoffnung, meinen Jungen bei Ihnen unterzubringen?«, fragte Constantin Roeder erschrocken. »Ich würde mich nur schweren Herzens von ihm trennen, aber ich muss zuerst an ihn denken. Er soll endlich etwas aus sich herausgehen. Ohne richtige Betreuung fürchte ich, dass er seelischen Schaden nimmt. Frau von Schoenecker, vielleicht müsste Rüdiger nicht für allzu lange Zeit bei Ihnen bleiben. Ich gedenke nämlich, nun doch die Scheidung einzuleiten und mich wieder zu verheiraten. Mit einer neuen Mutter im Haus würde für den Jungen alles anders werden. Bitte, überlegen Sie doch noch einmal, ob Sie meine Bitte nicht erfüllen könnten. Sie würden mir damit einen großen Gefallen tun und Rüdiger helfen.«
»Gut, ich werde den Jungen aufnehmen«, sagte Denise nun kurz entschlossen.
Constantin Roeder atmete auf. »Danke«, sagte er leise. »Wann darf ich den Jungen zu Ihnen bringen?«
»Sobald Sie wollen. Ich sorge dafü