Kapitel 1
„… BEVOR ER MICH KANNTE“
Haus von Johannes, Ephesus, A. D. 44
Trauer. Nichts als Schmerz.
Am vierten Tag der Schiwa für seinen Bruder, den großen Jakobus, tut Johannes alles, um sich von seinem Schmerz abzulenken. Jakobus war auf Anweisung von König Herodes Agrippa von Judäa durch das Schwert hingerichtet worden. Der Jesus-Schüler, der immer davon überzeugt war, dass Jesus ihn ganz besonders liebte, hat seine wenigen Notizen aus der Zeit mit dem Rabbi aufbewahrt. Angetrieben durch diese jüngste Tragödie will er sie jetzt ausarbeiten, bevor ihm und seinen Kameraden dasselbe Schicksal widerfährt wie Jakobus. In seinem Bericht will er ihre Erlebnisse aus der Zeit mit dem Rabbi ganz genau schildern, und zu diesem Zweck hat Johannes die Freunde zu sich eingeladen, die zusammen mit ihm und seinem Bruder drei Jahre lang mit Jesus durch das Land gezogen sind. Diese drei Jahre haben einen bleibenden Eindruck bei ihnen allen hinterlassen. Kein Mensch könnte das jemals vergessen! Gemeinsam wollen sie ihre Erinnerungen austauschen. Die Gemeinden, die ganze Welt soll davon erfahren.
Im größten Raum seines bescheidenen Heimes hat Johannes Stühle und Bänke aufgestellt. Aber werden die anderen überhaupt kommen, an einem Abend wie diesem? Gemeinsam hatten sie selbstverständlich an der Beisetzung des großen Jakobus teilgenommen und waren am Abend an der Seite Marias, der Mutter von Jesus, und Johannes’ geblieben. Kann er von ihnen erwarten, dass sie während der siebentägigen Trauerzeit noch ein zweites Mal kommen? Das ist viel verlangt, trotzdem hat er sie darum gebeten, aber nicht nur, um ihm und Maria Trost und Unterstützung zu geben.
Dunkle Wolken sind am späten Nachmittag aufgezogen, und jetzt zucken Blitze über den dunklen Abendhimmel. Wenn seine Freunde nicht bald eintreffen, werden sie in einen Regenguss geraten. Vorsichtig öffnet Johannes die Haustür. Ein eisiger Windstoß zwingt ihn, sie festzuhalten, damit sie nicht gegen die Wand schlägt.
„Geduld“, mahnt Mutter Maria. Sie legt sich einen Schal um den Kopf. „Sie kommen bestimmt. Du weißt, dass sie kommen werden. Der Abend ist doch gerade erst angebrochen.“
Seit man ihren Sohn am Kreuz hingerichtet hat – vor langer Zeit –, lebt diese Frau mit der besonderen Ausstrahlung bei Johannes. Noch am Kreuz hatte Jesus zu ihr gesagt: „Das ist jetzt dein Sohn!“ Und zu Johannes: „Sie ist jetzt deine Mutter!“
Und so ist es tatsächlich. Maria ist für Johannes zu einer Mutter geworden, er liebt sie und weiß, dass sie ihn ebenfalls liebt. Die Jahre und der Kummer haben ihre Haare grau werden lassen, aber er liebt jede Falte in ihrem klaren, heiteren Gesicht.
„Mach die Tür zu“, sagt sie und legt ihm sanft die Hand auf die Schulter.
Johannes kommt ihrer Aufforderung nach. Ein Windstoß bringt die Kerze auf dem Fenstersims zum Verlöschen. Ganz plötzlich setzt der Regen ein.
„Oh nein“, stöhnt er.
„Mach dir keine Sorgen“, beruhigt Maria ihn. „Die Männer sind an jedes Wetter gewöhnt …“