Leben in der Bubble und erste Entfremdungen
Ich weiß noch sehr genau, wie begeistert ich war, als der neue Weltkatechismus Anfang der Neunzigerjahre rauskam. Mich faszinierte, dass es auf jede Frage, jedes moraltheologische Problem eine klare Antwort gibt. Ja, das war nicht nur faszinierend, sondern auch irgendwie anziehend. Im Studium bemerkte ich zwar durchaus, dass und wie Glaube, Philosophie und Theologie zu ganz neuen, weiten Horizonten führen können und dass dieses kleinkarierte Katechismus-Denken nicht zu dem dort beschriebenen großen Gott passt. Doch noch hatte das keine Konsequenzen für mein Denken, Fühlen und schon gar nicht für mein Handeln.
In den Neunzigern war es auch, genau in der Mitte der Neunziger, als ich auf dem Mainzer Wochenmarkt von einem engagierten Mann der BewegungWir sind Kirche angesprochen wurde. Er wollte eine Unterschrift für das Kirchenvolksbegehren. Kein Regens oder sonst Vorgesetzter musste mir die Unterschrift damals verbieten; auf die Idee, zu unterschreiben, wäre ich selbst niemals gekommen. Für mich stand fest: Die Lehre war klar und Papst Johannes Paul II. hatte mit dem Apostolischen SchreibenOrdinatio sacerdotalis (Die Weihe der Priester) am 22.05.1994 die Frage nach der Priesterweihe der Frau letztgültig entschieden und machte damit, salopp gesagt, päpstlich den Deckel drauf. Für mich keine Sensation, was dann sonst?
In dieser Zeit, und davor schon und danach auch, verloren wir immer wieder gute Kollegen und Mitbrüder. Wir, also die Kirche. Sie hörten auf, sich zu engagieren oder traten aus, weil sie sich zu einer Frau oder zu einem Mann hingezogen fühlten und dies nicht heimlich tun, sondern sich offen und ehrlich zu einem Menschen bekennen wollten. Wir verloren dadurch großartige Seelsorger und gute Mitarbeitende – ins Grübeln brachte mich das zunächst noch nicht. Obwohl ich wusste, dass weder die Frage nach der Homosexualität noch die des Zölibats in der Bibel von Jesus verhandelt wurden, sondern von Paulus. Nur bei Paulus könnte man sagen. Doch damals kam mir auch das »nur« nicht in den Sinn, sondern ich verteidigte den Zölibat leidenschaftlich, obwohl ich schon im Seminar bei mir selbst und bei anderen erlebte, wie schwer sich dieses Versprechen halten lässt.
Ich spürte noch nicht oder wollte nicht spüren, in welcher Sonderwelt ich eigentlich lebte, in welche Bubble ich tiefer und tiefer eintauchte. Im Gegenteil: Was ich spürte und genoss, das waren beispielsweise die Blicke der Leute, wenn ich in Soutane vom Seminar in den Dom lief. Jesus selbst kannte diese Gefahr schon, als er seinen Jüngern erzählte, man solle sich vor jenen hüten, die lange Gewänder mit Quasten tragen. Ich blendete diese Warnung des Herrn (vgl. Mt 23,5 ff.) gekonnt aus. Als ich 2018 feierlich ins Domkapitel aufgenommen wurde, musste ich zuvor zwei Mal nach München zu einem Schneider. Hier wurde Maß genommen und sämtliche Eitelkeiten bedient. Dann noch einmal zur Zwischenanprobe: Der Schneider hatte einen kleinen Laden und die Anprobe fand im Verkaufsraum statt. Vor den Schaufenstern lief in diesem Moment eine asiatische Reisegruppe vorbei und einige von ihnen zückten direkt ihre Kameras, als sie mich sahen, und drückten ab. Sie machten Aufnahmen von mir in der Soutane bei der Zwischenprobe! Da wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie grotesk dies alles ist – aus der Zeit gefallen und museal wie zum Beispiel Schloss Neuschwanstein oder andere Zeugnisse einer vergangenen Zeit.
Wie sehr aus der Zeit gefallen und wie wenig anschlussfähig an diese Zeit, das begann ich erst später zunehmend in der pastoralen Arbeit zu erfahren. Gerade in Lebensbrüchen bei Scheidungen oder der Aufgabe des Priesteramts tun wir uns als Kirche so unendlich schwer damit, gute und neue Wege aufzuzeigen, die die erfahrene Lebensgeschichte ernst nehmen und doch gute Aufbrüche ermöglichen.
Die beginnende Entfremdung erfuhr ich aber nicht nur bei den scheinbar »großen« Themen, sondern eben bei vermeintlichen Kleinigkeiten in der pastoralen Arbeit, die für die Menschen aber nicht Kleinigkeiten, sondern Teil des Alltags und damit ihres Lebens sind. Dazu gehört auch die Liturgie, die für mich lange Zeit unhinterfragt einfach verwendet wurde, ja, verwendet werden musste. Gleichzeitig erlebte ich in Vorbereitungssitzungen in der Zeit als Jugendseelsorger, wie wenig junge, aber durchaus auch ältere Menschen an Kirchen-Sprech andocken können.
Je älter ich wurde, je weiter ich in der Hierarchie aufrückte, desto weiter schritt auch die Entfremdung fort. Manches davon bemerkte ich nicht, manches schon und manches davon verdrängte ich. Als würde ich innere Brandherde austreten oder besser: a