: Sven Kramer, Gerhard Schweppenhäuser
: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 48/49 25. Jahrgang (2019)
: zu Klampen Verlag
: 9783866747432
: Kritische Studien
: 1
: CHF 22.50
:
: 20. und 21. Jahrhundert
: German
: 292
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die »Zeitschrift für kritische Theorie« ist ein Diskussionsforum für die materiale Anwendung kritischer Theorie auf aktuelle Gegenstände und bietet einen Rahmen für Gespräche zwischen den verschiedenen methodologischen Auffassungen heutiger Formen kritischer Theorie. Sie dient als Forum, das einzelne theoretische Anstrengungen thematisch bündelt und kontinuierlich zu präsentiert. Inhalt: Vorbemerkung der Redaktion Hans-Ernst Schiller: Zur Aktualität der Metaphysik. Kritische Theorie und philosophische Tradition Gerhard Richter: »Eine Krankheit alles Bedeuten«. Kafkas »Proceß« zwischen Adorno und Agamben Anne-Marie Feenberg-Dibon: Adorno on »Brave New World«: »Aldous Huxley and Utopia« Matthias Rudolph: Ein ontologischer Kurzschluss. Jane Bennetts »Vital Materialism« im Lichte von Theodor W. Adornos Ontologiekritik Konstantinos Rantis: Kants Kritik der Urteilskraft und Marcuses Befreiung der Natur Stefan Gandler: Sprechen und Hören im Spätkapitalismus. Reflexionen zur kritischen Theorie Bolívar Echeverrías Marco Solinas: Kritik der Regressionen. Politische, geschichtliche und psychosoziale Betrachtungen Theodor W. Adorno und Ulrich Sonnemann: Briefwechsel 1957-1969 herausgegeben und kommentiert von Martin Mettin und Tobias Heinze Hermann Schweppenhäuser: Über den Wissenschaftsbegriff bei Marx Peter-Erwin Jansen: Die irrationale Rationalität des Fortschritts. Herbert Marcuses weitsichtige Technologiekritik Jakob Hayner: Der revolutionäre Flügel der kritischen Theorie. Ein Nachruf auf Wolfgang Pohrt Daniel Burghardt: Marx im Handgemenge. Ein Literaturbericht www.zkt.zuklampen.de

Gerhard Richter

»Eine Krankheit alles Bedeuten«


Kafkas »Proceß« zwischen Adorno und Agamben*

Bei dem Dichter W. H. Auden findet sich eine denkwürdige Aussage: Wenn jemand »den Namen desjenigen Künstlers nennen müsste, der auf so tiefgreifende Weise mit unserem Zeitalter in Beziehung steht wie Dante, Shakespeare und Goethe mit ihrem, dann wäre Kafka der erste, der einem in den Sinn käme.«1 Wenn diese Einschätzung auch heute noch treffend anmutet, dann nicht nur deshalb, weil Kafkas Beziehung zu unserem Zeitalter einen bestimmten Zeitgeist, ein kulturelles Wissen, eine gegebene politische Konstellation oder ein gewisses Lebensgefühl, das sich der Einflusssphäre einer entfremdeten Moderne verdankt, widerspiegelte. Die Einschätzung bewahrheitet sich vielmehr und insbesondere mit Blick auf die verschiedenen Arten und Weisen, in denen Kafkas Schreiben immer wieder auf eine charakteristische kategoriale Reflexion, nämlich auf die Frage nach der philosophischen Interpretierbarkeit dessen, was Literatur genannt wird, zurückkehrt. Was ist auf begrifflicher Ebene mit einem Text wie KafkasDie Verwandlung anzufangen, in dem ein Protagonist namens Gregor Samsa eines Morgens erwacht, um alsbald zu der Erkenntnis zu gelangen, dass er sich unerklärlicherweise in ein monströses Ungeziefer verwandelt hat? Und welche Art von philosophisch interpretierbaren Gedanken ruft jene andere Szene des Erwachens hervor, in der die Figur Josef K., ein hochrangiger Bankangestellter, unvorhergesehen von zwei Beamten in seiner eigenen Wohnung in Haft genommen wird? »Jemand musste Josef K. verleumdet haben«, so lautet der Beginn des berühmten ersten Satzes ausDer Proceß, »denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.«2 Es ist, als ob solche Szenen figurativ die Erfahrung eines ratlosen Lesers inszenierten, der erwacht, nur um sich in einem erratischen Textgeschehen wiederzufinden, das er nun zu interpretieren aufgefordert ist, ohne dabei auf einen verlässlichen Interpretationsschlüssel oder hermeneutisch stabilisierbaren Referenzrahmen zurückgreifen zu können. Der Leser erfährt sich, wie Josef K. sich selbst, als Teil einer gewissen narrativen Störung. Wie Martin Walser hinsichtlich desProceßes zurecht bemerkt, beginnt bei Kafka ein jeder »Vorgang […] erst in dem Augenblick, in dem dieStörung eintritt.«3 In diesem Zustand von Orientierungslosigkeit und Zögerlichkeit wird dem Lesen gleichsam selbst schleppend der Prozess gemacht, während zugleich unweigerlich der Prozess des Lesens selbst einsetzen muss; eine verschlüsselte Doppelbedeutung im Titel von Kafkas RomanDer Proceß wird hier lesbar, insofern ›Prozess‹ ja sowohl ›Gerichtsverfahren‹ als auch ›Vorgang‹ bedeutet. Doch wo genau erwacht der Leser oder was wird in ihm erweckt, wenn ein literarischer Text aus philosophischer Perspektive gelesen wird? Ist dieses Erwachen vielleicht nicht auch nur eine Art von Traumvorgang, in dem gelernt werden muss, der singulären Traum-Logik eines Kunstwerks zu folgen?

Wenn Kunst um die Wahrheit zirkelt und wirbelt wie eine Motte um das Licht einer Flamme, von ihr intensiv angezogen und doch genötigt, stets eine bestimmte Distanz zu ihr zu wahren, um nicht vollständig vernichtet zu werden, so markiert dies jenen Ort, an dem die Beziehung zwischen