: Elvira Seiwert
: Enthüllungen Zur musikalischen Interpretation im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit
: zu Klampen Verlag
: 9783866746596
: 1
: CHF 25.80
:
: Musik: Allgemeines, Nachschlagewerke
: German
: 294
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Adornos Aufführungstheorie, die im Nachlassband »Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion« zusammengefasst ist, blieb fragmentarisch. Elvira Seiwert verfolgt sie in ihren Hauptzügen, setzt sie in Beziehung vor allem zu Benjamin und seiner Findung der »dialektischen Bilder«, nicht zuletzt auch zum Spontaneitätsgedanken Ulrich Sonnemanns. Der Dirigent Michael Gielen schreibt: »Was bei Adorno angedeutet wurde, ist hier breit ausgeführt und mit Beispielen und Analysen belegt, für die die langjährige Rundfunkarbeit der Autorin das phantasievolle Gerüst liefert. Die Arbeit von Elvira Seiwert sollte obligatorische Lektüre all der meist ahnungslosen Musikbeflissenen sein.«

Elvira Seiwert, Jahrgang 1957, studierte Musik, Philosophie und Germanistik, arbeitete im öffentlich-rechtlichen Hörfunk, widmete sich den Rundfunkarchiv-Beständen, diese als Unruhe-Depots verklungener Musikgeschichte aktualisierend. Daneben Promotion und Habilitation zu Thomas Mann, Adorno, Beethoven und zur Archäologie der Musikreproduktion. Sie ist Mitarbeiterin der Ulrich Sonnemann-Schriften-Ausgabe und der Michael Gielen-CD-Edition.

Kapitel 1


Musikalische Interpretation

im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit

»Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gern los sein möchte und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt. Man ahnet, man sieht auch wohl, daß es nur ein Behelf ist; liebt sich nicht aber Leidenschaft und Parteigeist jederzeit Behelfe? Und mit Recht, da sie ihrer so sehr bedürfen.«

(Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen34)

Als wollte er dem technisch-medialen Aspekt gleich von Beginn an begrifflich Rechnung tragen, spricht Adorno schon früh, in einer ersten kleinen Arbeit zum Thema35, von »Reproduktion«36 statt von »Interpretation«. Ohne der allein schon durch den Begriff »Interpretation« evozierten Mehrdeutigkeit nachzugeben, springt so der Akzent von selber aufs Nachschaffen, Nachahmen; wird überdies der (Neben-)Gedanke ans reproduzierende Medium zugelassen. Das freilich seinerseits (als, vom Begriff her, ›Mitte‹, ›Mittleres‹, ›Vermittelndes‹) vieldeutig schillernd in, historisch, wandelnden Gestalten erscheint. Einen zumal spiritualistisch-spiritistischen Auftritt hat es in Zeiten der Romantik. In E.T.A. Hoffmanns Erzählung vom »Ritter Gluck« etwa erscheint ein Phantom des »Ritters« als Medium, das die Verhältnisse von Glucks Originalkompositionen reproduziert und dabei in neuer Weise ordnet37; aktuell versorgen die Mittel der Digitalisierung mit neuen, virtuellen Welten. Herbeizitiert jedenfalls ist als zugehöriger Bereich die Medientheorie.

Die – notabene – selbst heute auf Grundlegungen, wie sie Benjamins Essay vom »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« liefert, nicht nur nicht verzichten will, vielmehr solchen Frühgeschichts-Reflexionen eine Konjunktur beschert. Die Jahrtausendwende ist das Datum, an welchem zurückgeschaut und der Kurs der Mediendiskussion resümiert werden wollte. Und so informiert das rechtzeitig erschienene »Kursbuch Medienkultur«: daß die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ausgebildeten Medien nicht allein als die Instrumente, die sie vorgeblich sind, zu lesen, sondern »gerade als Instrumente« selbst zu »Quellen kultureller Praxis« geworden wären und eine ihrer Eigenwilligkeit sich anmessende Deutung erforderten. Freilich sei die Disziplin »Medienwissenschaft« verhältnismäßig jung, ihre Geschichte »noch nicht geschrieben«. Das liege nicht zuletzt »an der Unklarheit darüber, wessen Abkömmling das, was sich heute Medienwissenschaft nennt, eigentlich sei«. »Denn hier«, heißt es weiter, »treffen die Auslagerungen der alten und erprobten Philologien, der kunst- und geschichtswissenschaftlichen Disziplinen, mit Nachrichtentechnik, Publizistik, Ökonomie, kommunikationswissenschaftlichen und wissenshistorischen Fragen in einem unbestimmten Mischungsverhältnis aufeinander und machen nur deutlich, daß ein gemeinsamer Ort ungewiß und ein gemeinsamer Gegenstand wenigstens problematisch ist.« Als ›Ausweg‹ wird ein »erstes medientheoretisches Axiom« statuiert: »daß es keine Medien gibt, keine Medien jedenfalls in einem substantiellen und historisch stabilen Sinn«. Allenfalls winke ein »gemeinsamer Horizont«, vor dem Medien dann als »systematisi