: Steven Uhly
: Die Summe des Ganzen Roman
: Secession Verlag Berlin
: 9783966390491
: 1
: CHF 18.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 172
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Madrid, in der Gegenwart: Zwei Menschen begegnen einander im Beichtstuhl einer kleinen Pfarrkirche am nordöstlichen Rand der Stadt, der eine ein Priester, der andere ein junger Mann, der offenbar schwer unter einer Sünde leidet, die er kaum auszusprechen vermag. Er flieht aus dem Beichtstuhl, kehrt aber am Folgetag zurück. Die immer intensiver werdenden Gespräche der beiden zeichnen allmählich ein Bild dessen, was diesen ?Sünder? tatsächlich quält. Die doppelte Abgründigkeit seiner Beichte zieht auch den Priester in die Kluft zwischen Wort und Tat und den Leser unweigerlich in einen Sog aus Fragen, die jeden einzelnen von uns betreffen: Ist unsere Liebe wirklich so selbstlos, wie wir glauben? Wie stark bedingen traumatische Ereignisse der Kindheit unsere Gefühlswelt? Wie sehr leiten ungelöste Probleme unser Handeln? Welche Macht übt die Gesellschaft aus, indem sie bestimmte Wirklichkeiten tabuisiert? Mit Genauigkeit und Einfühlungsvermögen widmet sich Steven Uhly einer Thematik, die seit Jahren weltweit für Schlagzeilen sorgt. Doch anders als die gängigen Litaneien von Schuld und Sühne zeigt seine äußerst persönliche Herangehensweise Räume auf, die auch denjenigen zugänglich sind, die viel zu früh ihre Unschuld verloren haben und deren gesamte Existenz dadurch zutiefst bedroht ist.

Steven Uhly geboren 1964 in Köln, ist der Sohn eines Auswanderers aus dem heutigen Bangladesch und einer Deutschen. Er studierte in Köln, Bonn und Lissabon Romanistik und Germanistik und promovierte als Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes über Multipersonalität als Poetik. 2002 ging er für den DAAD nach Brasilien, wo er das Deutsche Institut der Bundesuniversität von Belém do Pará leitete. Nach seiner Rückkehr 2006 ließ er sich mit seiner Familie in München nieder, wo er heute auch lebt. 2010 erschien sein Erstling Mein Leben in Aspik. Sein 2014 publizierter Roman Königreich der Dämmerung wurde vom Goethe Institut zu einem der 10 besten Bücher des Jahres gekürt und in mehrere Sprachen übersetzt. Für seinen Roman Adams Fuge erhielt er den Tukan Preis der Stadt München. Sein Roman Glückskind wurde zum Bestseller und von Michael Verhoeven für das ZDF verfilmt. Die Summe des Ganzen ist sein achter Roman.

2


Donnerstag. Padre Roque sitzt erneut in seinem Beichtstuhl, es ist 17:20 Uhr. Heute kam die alte Señora Barros und beichtete ihm, dass sie immer noch wütend auf ihren verstorbenen Gatten ist, weil er damals den Sohn an die Polizei verriet. Der Sohn war desertiert und hatte sich bei ihnen zu Hause versteckt. Aber der verstorbene Gatte hielt die Feigheit des Sohnes für eine Schande und verständigte die Behörden. Die nahmen ihn mit und steckten ihn für zehn Jahre nach Carabanchel ins Gefängnis. Als er wieder rauskam, war er nicht mehr derselbe. Solange der Vater lebte, kam der Sohn nicht mehr nachhause, und Señor Barros starb an gebrochenem Herzen, da ist sich die Witwe sicher. Oft wacht sie schweißgebadet auf und wünscht ihm den Tod, obwohl er längst nicht mehr lebt. Deshalb kommt sie fast jede Woche zur Beichte.

Padre Roque weiß, dass er Gottes Werk verrichtet, wenn er ihr ausreichend viele Bußgebete und Vaterunser aufgibt, damit sie die Woche über beschäftigt ist. Manchmal empfindet er echtes Mitleid für die alte Dame, die jede seiner Messen besucht, stets in der ersten Reihe sitzt und voller Inbrunst betet. Der Sohn, der sie ein paar Mal begleitet hat, ist allerdings ein unangenehmer Typ. Er hat den Padre von Anfang an misstrauisch angeblickt, als wäre dieser an irgendetwas schuldig. Das kränkt den Padre, denn er gibt sich viel Mühe mit Señora Barros und ist immer für sie da. Aber die Verwandtschaft kann sich niemand aussuchen, die Señora trägt nicht die Schuld daran, dass ihr Sohn keine Manieren hat.

Jemand betritt den Beichtstuhl und setzt sich. Der Padre blickt auf die Uhr, um abzuschätzen, wer es sein könnte. Bevor er sich länger Gedanken machen kann, sagt die gehetzte Stimme vom Vortag:

»Padre, es tut mir leid, dass ich Sie gestern einfach sitzengelassen habe.«

»Mach dir keine Sorgen um mich, mein Sohn«, erwidert der Padre und legt eine Extraportion Güte in seinen Tonfall. »Bist du heute bereit zu sprechen?«

»Ich … ich hoffe es, Padre«, sagt die Stimme gepresst. »Es ist nicht leicht, weil es so … unmoralisch ist, was ich empfinde, Padre.«

»Glaubst du an Gott, mein Sohn?«, fragt der Padre, denn er hat das Gefühl, jetzt einmal grundsätzlich werden zu müssen.

»Ja, ich glaube an Gott, unbe