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»Was hast du angestellt?«
»Ich bin Pfarrer geworden.«
»Wie konntest du nur!« Barbara Wildberger trat einen Schritt zurück und ließ Gabathuler herein. »Kaffee?«
»Sehr gerne.«
Sie nahm eine Tasse und schenkte aus dem Kaffeekocher ein.
»Woher kommst du?«
»Andelfingen.«
»Bist du die ganze Nacht durchgefahren?«
Gabathuler nickte und nahm die Tasse dankend entgegen. »Hast du noch etwas Milch?«
»Richtig! Du trinkst den Kaffee mit Milch.« Sie öffnete den Kühlschrank und stellte ihm die Milchtüte hin. Einen Moment lang sagte keiner ein Wort. Barbara beendete das Schweigen. »Hör mal, Roger, es ist schön, dich zu sehen. Wenn auch etwas überraschend. Aber ich muss jetzt raus. Die Helfer kommen um sieben, und bis dann muss das Material bereit liegen.«
»Seid ihr schon in der Ernte?«
»Wir hatten einen sehr warmen Sommer und einen wunderbaren Herbstanfang. Wenn wir die Trauben jetzt nicht einfahren, werden sie überreif.«
»Du musst dich nicht um mich kümmern. Wenn’s recht ist, lege ich mich einfach für ein paar Stunden hin und gehe anschließend etwas spazieren.«
»Zwischen sieben und acht heute Abend essen wir. Es werden alle Helfer da sein. Wenn du willst, kannst du dich dazusetzen.«
»Gute Idee!«
»Also, bis dann.« Barbara öffnete die Tür und trat nach draußen.
Gabathuler nippte an dem heißen Kaffee, holte sich aus der Küche ein Stück Brot und begann in denNeuen Südtiroler Nachrichten zu blättern. Es dauerte nicht lange bis ihm die Augen zufielen.
Als er erwachte, tat ihm alles weh. So wie er eingeschlafen war, konnte es nicht anders sein, als dass Oberkörper und Hals verspannt waren. Gabathuler richtete sich vorsichtig auf und streckte sich in alle Richtungen, um die Steifheit aus den Gliedern zu bekommen. Als er sich umsah und realisiert, wo er war, huschte ihm ein Lächeln übers Gesicht. Vertraut war ihm der Raum, vertraut die Aussicht über das Eisacktal. Sechs Jahre war es her, und doch kam es ihm vor, als wäre er erst gestern noch hier gewesen.
Damals, nach dem Zugriff an der Bäckerstrasse, hatte ihn Rechsteiner freigestellt. Sein Chef hatte immer hinter ihm gestanden und ihn auch in diesem Fall gedeckt. Aber aus politischen Gründen musste er kommunizieren können, dass »der zuständige Polizeibeamte für die Zeit der Untersuchung der Schießerei an der Bäckerstrasse vom Dienst suspendiert bleibt«, so der Wortlaut in der Pressemitteilung. Rechsteiner war damals in einer schwierigen Position. Nach oben und außen musste er klar machen, dass er seinen Laden im Griff hatte und er jeden Schusswaffengebrauch sorgfältig untersuchte. Nach innen, und das hieß in diesem Fall Gabathuler gegenüber, galt es zu vermitteln, dass er ihn nicht wie die sprichwörtliche heiße Kartoffel fallen ließ. Mit einer sehr formell gehaltenen E-Mail, die bestimmt seine Sekretärin geschrieben hatte, ließ er Gabathuler in sein Büro kommen. Dort teilte er ihm in knappen Worten und in Gegenwart des Personalverantwortlichen seine Freistellung mit. Als die Formalitäten geregelt waren und der Personalchef wieder weg war, beugte sich Rechsteiner vor und sagte: »Gabathuler, Sie wissen, dass Sie mein bestes Pferd im Stall sind. Aber Sie haben in den vergangenen Jahren viel zu viel gearbeitet. Ich hätte Sie schon längst in den Zwangsurlaub schicken sollen. Betrachten Sie diese Freistellung nun als Geschenk des Kantons Zürich. Sie können mal Pause machen, ohne dass es von Ihrem Urlaubskonto abgeht.«
»Polizisten werden freigestellt, wenn sie etwas falsch gemacht haben. Ich habe nichts falsch gemacht.«
»Es sind fünf Leichen aus der Bäckerstrasse getragen worden! Vier davon wurden mit derselben Waffe erschossen. Mit Ih