: Lina Meruane
: Nervensystem
: AKI Verlag
: 9783311703884
: 1
: CHF 16.60
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Sie ist Astrophysikerin und kämpft im »Land der Gegen­wart« mit ihrer Doktorarbeit. Sie kommt aus dem »Land der Vergangenheit«, einem Ort, der in ihrer Erinnerung durch persönliche und politische Tragödien belastet ist. Ihr Partner ist Gerichtsmediziner, der die Knochen von Opfern staatlicher Gewalt analysiert und sich gerade von einer Explosion auf einer Baustelle erholt, die ihn fast getötet hätte. Sie wird von einer Schreibblockade geplagt und wünscht sich, sie würde krank, um eine Entschuldi­gung für ihre mangelnden Fortschritte zu haben. Dann treten bei ihr mysteriöse Symptome auf. Während ihre Angst wächst, wird die Anziehungskraft der Vergangen­heit stärker und stärker, und ihre Familie rückt ins Blick­feld: der verwitwete Vater, die Stiefmutter, die Geschwis­ter. Jede und jeder von ihnen hat eigene Erfahrungen mit Krankheit und Gewalt gemacht, und schließlich werden die Systeme aufgedeckt, die sie zusammenhalten und zu­gleich atomisieren.Nervensystem von Lina Meruane ist die außergewöhn­liche klinische Biographie einer Familie - voller Zunei­gung und Groll, dunklem Humor und verschütteter Ge­heimnisse, in der Traumata als Krankheiten spürbar und sichtbar werden - Krankheiten, die nicht nur den Körper, sondern auch die Familien und die Geschichte der Län­der, in denen wir leben, heimsuchen können. Ein elek­trisierender Roman über Krankheit, Vertreibung und das, was uns zusammenhält.

LINA MERUANE gilt als eine der profiliertesten Stimmen der chilenischen Gegenwartsliteratur. 1970 kam sie in Santiago de Chile zur Welt, seit 2000 lebt sie in New York und unterrichtet dort Lateinamerikastudien an der NYU. Sie ist Gründerin und Direktorin des in New York ansässigen unabhängigen Verlags Brutas Editoras. Meruane debütierte 1998 mit dem Erzählband Las Infantas; inzwischen ist ihr ?uvre auf ein vielgestaltiges Werk angewachsen, das Romane ebenso umfasst wie Essays zur Palästinafrage (Volverse palestina, 2013) oder eine Anthologie über die Spuren von Aids in der lateinamerikanischen Literatur. Neben Auszeichnungen in ihrer Heimat Chile erhielt sie 2011 den Anna-Seghers-Preis für Internationale Literatur und 2017 ein Stipendium des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Nervensystem ist ihr fünfter Roman, der 2019 auf Spanisch und 2021 auf Englisch erschien und in viele Sprachen übersetzt wird.

explosion(monate vorher)


Ein paar Tage beurlaubt. Mit dem Verbot, aufzustehen und sich der geringsten Aufregung auszusetzen. Das hatte sie ihm am Abend zuvor noch einmal eingeschärft, doch er wagte es, die Tür einen Spalt zu öffnen und den Arm zum Boden zu strecken. Seine Hand umgriff die eingerollte Zeitung, von einem Gummi umklammert. Die Zeitung, die er in den Tagen seiner Genesung nicht lesen durfte. Die Tageszeitung, die er vor ihr verstecken würde.

 

Sanft schloss er die Tür, um sie nicht zu wecken, und verharrte reglos, wartete. Reglos. Mit dem Gefühl, dass sich etwas in der Luft verfangen hatte, dort draußen, irgendwo im Gebäude. Ein Säuseln. Ein Echo, wohl nicht mehr als eine auditive Halluzination. Amboss und Steigbügel vermittelten ihm bloß unmerkliche Hammerschläge in einem seiner Ohren. Er wusste, dieses Krachen existierte nur in seinem Innern. Er konnte seinem Trommelfell noch immer nicht trauen, doch er ahnte, dass es diesmal ein Laut war, der von außerhalb seines Körpers kam. Der rauschende Sonntag der Nachbarn. Ihr Schnarchen. Das Blubbern des Espressokochers in der Küche. Das war es nicht, weder Regen noch Kaffee noch eine verstopfte Nase. Es war einenergisches schwingendes dringendes Geräusch. Und er sah wieder hinaus, sein Gesicht gezeichnet von Verbrennungen, das Ohr verbunden, und wieder hörte er ein zitterndes e im Gang, ein gedehntes eeeee, das in Konsonanten überging. Ein latentes heeeeelp, anhaltend. Eine Stimme, die um Hilfe rief?

 

Sie würde nachher mit ihm schimpfen, weil er in T-Shirt und Unterhose die Schwelle überquert hatte, hinausgegangen war, auf der Suche nach einer vielleicht erfundenen Stimme hinterMauern Ohren asymmetrischem Schorf. Weil er trotz verordneter Bettruhe allein die Treppen hinuntergegangen, einem Gang um Ecken gefolgt, wieder hochgegangen war, bis er vor der Tür der Wohnung stand, aus der dieses gedehnte Wort zu kommen schien.

***

Beschreibung eines aschgrauen Kopfs, vom Alter gebeugt. Er rührt sich kaum, als er hastige Schritte hört.

***

Das ist ein Altersheim, lautete ihr bissiger Kommentar, als er sie geweckt und ihr von dem gestürzten Alten erzählt hatte, der aus der Nase blutete. Von dem Arm, auf den Fliesen ausgestreckt, immer noch die Zeitung wie eine Fackel in der Hand. Wer weiß, wie lange er dort schon lag, im zugigen Flur hingefallen, sagte er, wollte ihren Vorwurf ersticken, dass er in seinem Zustand allein hinausgegangen war. Ein Glück, dass du ihn hast retten können, murmelte sie mit einer Grimasse, kniff die Augen zusammen, versprühte Empörung.

 

Doch er hatte ihren stillschweigenden Vorwurf bereits umschifft, ihn hatte das Bild das Alten verstört, den er auf einen Stuhl gehievt hatte, mit einem Glas Wasser. Er konnte nicht vergessen, dass er einen Notarzt für ihn hatte rufen wollen, doch der Alte darauf bestand, dass er das unterließ. Gehen Sie bitte, flehte er. Und er war gegangen, hatte jedoch in seinem Innern den Alten mitgenommen.

 

Dabei hatte er ihn gar nicht nach seinem Namen gefragt oder es nicht gewagt. Was nicht benannt wurde, lief Gefahr, zu verschwinden.

***

Einen gereizten Muskel oder Nerv, ein Zucken zwischen Auge und Wange sah sie in seinem Gesicht, als seine Chefin ihn bat, die Tage seiner Krankschreibung zu verkürzen und die Forschungen vor Ort zu übernehmen, obwohl sie wusste, dass er sich der Ausgrabungsstätte nicht nähern sollte, die ihn geradewegs in die Klinik geschickt hatte, die anderen auf den Friedhof. Der Psychiater hatte ihm verordnet, sich von diesem Graben fernzuhalten, von allen Gräben, für eine gewisse Zeit. Aber die Direktorin konnte sich nicht darum kümmern, und ihr Stellvertreter war er.

 

Ich muss ein paar Tage fort, wegen streng persönlicher Angelegenheiten. So begann die Mitteilung der Direktorin an ihr Team. Nur ihm gegenüber hatte sie auf diesen Euphemismus verzichtet und ihm anvertraut, dass sie morgens beim Aufwachen ihren Mann mit allzu offenen, flehenden Augen vorgefunden hatte. Weder schlafend noch wach.

 

Und springst du ein?, fragte sie laut. What would you do?, entgegnete er, zuckte mit den Schultern und ließ sein schallendes Türknallen folgen.

***