Kapitel 4
Julia richtete den Blick auf das große Bild über dem Bett. DieRote Dominanz. Sie hatte das Werk immer gern angesehen, weil ihr kräftige Farben gefielen. Rot ganz besonders. Außerdem hatte das Gemälde bisher für sie eine gewisse Erotik ausgestraht. Jetzt allerdings, mit dem toten Valentin direkt darunter, wirkte es auf einmal bedrohlich, alarmierend, beängstigend. Einen Moment lang starrte sie Valentin an. Er war nicht der erste Verstorbene, den sie in ihrem Leben sah. Aber mit ihm war sie in der Sekunde seines Todes auf eine äußerst angenehme Weise intim gewesen. Sie bemühte sich, diese frische Erinnerung zurückzudrängen, sie musste jetzt an sich denken. Er war tot. Wem würde es nützen, wenn diese unabänderliche Tatsache ihr eigenes Leben aus den Angeln hob?
Kurz dachte sie darüber nach, die Leiche lieber verschwinden zu lassen, anstatt sie hier im Bett zurückzulassen. Aber wie sollte sie das anstellen? Das Haus anzünden und alles zu Asche werden lassen, was sich darin befand? Nein, das wäre zu auffällig. Ein Loch buddeln und ihn im Garten vergraben? Das käme immerhin einem richtigen Begräbnis am nächsten. Dann aber wischte sie alle Überlegungen beiseite und entschied sich endgültig dafür, einfach von hier zu verschwinden. Sobald Valentins Leiche gefunden wurde, würde sie als seine Galeristin vielleicht informiert werden und könnte dafür sorgen, dass er eine anständige Beerdigung bekäme.
Ein anderer Gedanke, der sich plötzlich in den Vordergrund schob, ließ sie allerdings erneut in Panik geraten. Falls der von wem auch immer herbeigerufene Notarzt nicht zweifelsfrei einen natürlichen Tod attestierte, würde das routinemäßig die Polizei auf den Plan rufen. Den Beamten würden dann sofort die beiden benutzten Weingläser auffallen. Schnell spülte Julia die Gläser, trocknete sie ab und stellte sie zurück in den Schrank, ohne sie noch einmal mit ihren Fingern zu berühren. Die leere Weinflasche wischte sie sorgfältig ab, bevor sie sie in den Karton mit dem Altglas stellte. Aber was war mit Valentins Körper? Dann fiel Julia eine Reportage über Kriminalistik ein, die sie interessiert verfolgt und in der ein Rechtsmediziner erklärt hatte, dass die Sicherung von Fingerabdrücken auf menschlicher Haut trotz akribischer Forschung bis heute schwierig und selten erfolgreich war. Falls Valentins nackter Körper darauf untersucht würde, konnte sie also hoffen, dass keine verwertbaren Spuren von ihr gefunden würden. Und im Haus? Sie musste alles gründlich putzen, bevor sie sich aus dem Staub machte. Ja, das war die Lösung.
Julia hatte für den Nachmittag ihr Eintreffen in der Pension Marina angekündigt, die hier auf der Insel inzwischen ihr Stammquartier war. Für die Inselurlaube mit ihren Eltern hatten sie verschiedene Ferienwohnungen gebucht. Als sie für das erste schwierige Gespräch mit dem etwas kauzigen Maler Valentin Velstand angereist war, war ihre Suche nach einem Luxushotel, wie sie es inzwischen bevorzugte und gewohnt war, erfolglos geblieben. Nichts erschien ihr exquisit genug, um ihren Ansprüchen zu genügen. Also hatte sie sich kurzerhand auf das Abenteuer eingelassen, das genaue Gegenteil auszuprobieren. Leben wie in der guten alten Zeit. Urig, bescheiden und h