2. KAPITEL
Zoe betrachtete den Umschlag, in dem sich der Brief befand, den sie vor zehn Jahren an sich selbst geschrieben hatte, und spottete über ihre Ängste. Wovor fürchtete sie sich? Bei dem violetten Umschlag handelte es sich schließlich nicht um die Büchse der Pandora – er würde keine Kette unvorhergesehener Ereignisse in Gang setzen. Wahrscheinlich würde sie sich herrlich amüsieren über ihre naiven Vorstellungen von damals.
Sie betrachtete die Passagiere links und rechts von ihr – die Frau zur Linken war wach und las ein Buch. Die Frau zu ihrer Rechten hielt ein schlafendes Kleinkind auf den Armen. Da Zoe sich ungestört fühlte, riss sie den Umschlag auf und zog zwei gefaltete Briefbögen heraus. Die Handschrift gehörte ihr, sauber und leicht geneigt. Von Nostalgie getrieben las sie den Brief, der nur für ihre Augen bestimmt war.
Liebe Zoe,
ich bin’s, Dein zweiundzwanzigjähriges Ich, das Dir schreibt. Ich hoffe, es lief bisher gut in Deinem Leben, wenn Du das hier liest. Ich hoffe, Du bist mit einem großartigen Mann verheiratet und stehst kurz davor, eine Familie zu gründen. Ich sage das, weil ich hoffe, dass Du bis dahin die Welt und Dich selbst entdeckt hast und zufrieden mit Deinen Entscheidungen bist.
Dr. Alexander bat uns, unsere sexuellen Fantasien aufzuschreiben, weil sie der Ansicht ist, dass wir wissen müssen, was uns erregt, bevor wir es von unseren Partnern erwarten können. Und dass wir erst eine erfüllte dauerhafte Beziehung haben können, wenn unser Partner unsere geheimsten Fantasien kennt und versteht, ganz gleich, wie ausgefallen sie sein mögen. Sie sagt, die stärkste emotionale Verbindung kommt aus einer starken körperlichen Verbindung, die wiederum das Fundament ist für Vertrautheit und Treue. Wenn jemand alles, was er sich wünscht, von einem Menschen bekommt, hat er laut Dr. Alexander keinen Grund zum Fremdgehen.
Diese Vorstellung gefällt mir besonders gut, weil mir Treue sehr wichtig ist. Andererseits möchte ich nicht unglücklich mit jemandem zusammen sein, wie es bei meinen Eltern der Fall war. Streit ist ihre einzige Form der Kommunikation. Manchmal möchte ich sie fragen, warum sie zusammenbleiben, wenn sie sich doch ganz offensichtlich nicht ausstehen können. Ich hoffe, dass sie nicht meinetwegen zusammenbleiben, denn sie sind nicht glücklich, und wenn sie sich streiten, fühle ich mich mies.
Wie dem auch sei, allzu viele sexuelle Erfahrungen habe ich noch nicht. Ich bin zwar keine Jungfrau mehr, aber um ehrlich zu sein, war der Sex bisher eher enttäuschend. Jedes Mal, wenn ich mit einem Jungen geschlafen habe, hoffte ich, es würde so werden, wie ich mir Sex immer vorgestellt habe – überwältigend, wie eine Droge, ohne die man nicht mehr leben kann. Aber so war es nie.
Vielleicht liegt es an mir. Weil ich offen bin und meine Meinung sage, glauben die Männer wahrscheinlich, dass ich die Kontrolle haben will. Dabei habe ich noch nie jemandem erzählt, dass ich in Wirklichkeit gern die Kontrolle hergeben möchte. Denn insgeheim sehne ich mich danach, an ein Bett gefesselt zu werden … mit Handschellen … und auf sechs verschiedene Arten mit einem Mann zu schlafen.
Mit glühenden Wangen schaute Zoe von dem Brief auf. Die Worte bewirkten, dass sie unruhig auf ihrem Sitz hin und her rutschte. Es musste sie einige Überwindung gekostet haben, sie vor zehn Jahren niederzuschreiben. Und wenn sie sich recht erinnerte, war es auch eine große Erleichterung gewesen. Mit einig