Kapitel 1
1
Murrend drehte sich Ernesto Valenti auf die andere Seite. Er zog die Decke über den Kopf, als könne er damit das Klopfen am Fenster abstellen. Sonja lag neben ihm, öffnete ein Auge und stupste ihn mit dem Ellbogen an.
»Steh schon auf. Wer immer das ist, er geht nicht von alleine weg«, sagte sie und zupfte an Ernestos T-Shirt.
Aber erst als Betty, die alte schwarze Labradorhündin, aufsprang und mit dem Schwanz rhythmisch gegen das Bettgestell trommelte, bewegte sich Ernesto. Er seufzte, setzte sich auf und gähnte. Die Uhr am Nachtkästchen zeigte 6 Uhr 23.
Drei weitere Schläge gegen das Fenster.
»Ich komme ja schon«, sagte Ernesto so laut, dass es der Besucher hören musste.
»Das wird aber auch Zeit«, drang es gedämpft durch Scheibe und Vorhang. Die Stimme gehörte Fritz Hochegger, dem Cheffotografen der Kärntner Tagespost. Der Umstand, dass er hier um diese Zeit auftauchte, verhieß nichts Gutes.
Betty lief wedelnd zur Haustür. Ernesto folgte ihr, stieg in seine Hose und ließ Fritz herein.
»Kaffee?«, fragte Ernesto und ging in die Küche. Er hörte, wie Fritz hinter sich die Tür schloss.
»Willst du nicht wissen, was los ist?«
»Du wirst es mir gleich erzählen«, sagte Ernesto und sah nach, ob in der Espressomaschine genug Wasser war. Er stellte eine Tasse unter die Auslaufdüsen und wartete, bis der Aufwärmzyklus beendet war.
»Wir haben keine Zeit«, sagte Fritz Hochegger und legte seine Kamera am Küchentisch ab. Betty versuchte, an ihm hochzuspringen, aber ihr arthritischer Rücken hielt sie von einer allzu stürmischen Attacke ab.
»Wenn du um diese Zeit auftauchst«, sagte Ernesto, »dann ist jemand gestorben. Und dieser jemand ist auch noch tot, wenn ich meinen Kaffee getrunken habe.«
»Angeblich liegt eine Leiche im Sablatnigmoor«, sagte Fritz. »Die Kriminalpolizei ist schon dort.«
»Aha«, machte Ernesto und nahm einen Schluck Kaffee.
»Wir wissen es seit einer halben Stunde. Ich bin gleich los, und der Chef meint, du sollst alles liegen und stehen lassen und sofort mitkommen.«
Ernesto stellte seine Kaffeetasse ab, ging ins Schlafzimmer, schnappte sich sein Mobiltelefon und küsste Sonja. »Es wird dauern«, sagte er. »Ich ruf dich später an.«
2
Fritz Hochegger stieß rückwärts aus der Einfahrt, blieb kaum einen Augenblick stehen und gab Gas. Die Reifen drehten durch, fanden Halt, und schon rasten sie den schmalen Weg entlang des Völkermarkter Stausees Richtung Bundesstraße. Von dort ging es in einem Höllentempo über die Draubrücke. In der scharfen Kurve an ihrem Anfang driftete der Wagen aus der Spur. Fritz konnte gerade noch verhindern, dass er die Betonleitwand rammte.
»Also erzähl schon. Wann haben sie die Leiche gefunden?«, fragte Ernesto und hielt sich an der Türverkleidung fest, als es in die nächste Kurve ging.
»So gegen vier oder halb fünf.«
»Bitte wer ist um diese Zeit dort unterwegs?«
»Naturforscher«, sagte Fritz. »Leute vom Landesmuseum. Die haben irgendetwas beobachtet. Vögel oder Frösche. Was weiß ich? Aber das ist doch eine hervorragende Geschichte, oder etwa nicht?«, fragte er und beschleunigte auf der Geraden zwischen Kühnsdorf und Eberndorf auf über 150 km/h. Ernesto schloss die Augen. Er wollte nicht sehen, wie der Straßenrand knapp am Vorderreifen vorbeizischte.
»Wenn wir auch tot sind, müssen wir wenigstens nicht mehr darüber berichten. Fotograf und Reporter auf dem Weg zum …«
»Stell dich nicht so an«, unterbrach ihn Fritz und bremste scharf. »Du weißt, dass ich ein guter Autofahrer bin.«
Hochegger bog in den Kreisverkehr vor Eberndorf ein. Ernesto konnte das metallene Einhorn in der Mitte kaum einen Wimpernschlag lang sehen, schon rasten sie an der ehemaligen landwirtschaftlichen Fachschule vorbei. Sie kamen zur nächsten Abzweigung, und Hochegger warf sich in die Kurve.
3
Auf dem Parkplatz des Sablatnighofes standen zwei Polizeibusse, drei weitere Einsatzfahrzeuge und der Škoda Octavia, den Major Steinkellner seit gut zehn Jahren benutzte. Noch bevor Hochegger neben dem Octavia geparkt hatte, kam schon ein Uniformierter gestikulierend auf sie zu.
»Presse«, sagte Ernesto beim Aussteigen. »Bringen Sie mich zu Major Steinkellner.«
»Der Major lässt ausrichten, Sie dürfen den Tatort nicht betreten.«
»Es ist ein Tatort, interessant«, sagte Ernesto. »Es handelt sich also um ein Verbrechen.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Und ob Sie das gesagt haben. Also, wo ist Steinkellner?«
»Sie dürfen nicht ins Moor. Das kann ich nicht zulassen.« Der Beamte stellte sich ihnen in den Weg.
Ernesto und Hochegger gingen wortlos an ihm vorbei.
»Es ist ein ausdrücklicher Befehl des Majors«, sagte der Beamte und lief ihnen hinterher. »Ich muss Sie festnehmen, wenn Sie meinen Anweisungen nicht Folge leisten.«
»Gut, erzählen Sie mir etwas über den Toten.« Ernesto blieb stehen. »Glauben Sie mir, ich habe kein gesteigertes Interesse, in aller Herrgottsfrüh eine Leiche zu besichtigen.«
»Der Major sagt, Sie sollen auf die Presseaussendung warten.«
»Ja, sicher, und die anderen Zeitungen haben die Geschichte vor uns auf der Titelseite.«
»Sie können da wirklich nicht hin«, wiederholte der Beamte.
»Wie wollen Sie mich aufhalten?« Ernesto überquerte die Straße. Der Beamte folgte ihm und rief einige Kollegen zu sich.
»Wenn Sie mich verhaften, lachen Sie morgen aus der Zeitung«, sagte Ernesto. »Fritz, mach gleich ein Foto, damit wir eine schöne Porträtaufnahme von unserem Freund und Helfer haben.«
»Aber …«, setzte der Beamte an. In diesem Moment hob Hochegger die Kamera und drückte ab.
»Noch einmal«, sagte Hochegger. »Aber diesmal bitte lächeln.«
4
Das Absperrband hing schlaff zwischen den Sträuchern. Major Horst Steinkellner und ein paar Männer in Zivil standen auf den mit Holzbalken gesicherten Wegen. Die Tatortgruppe in weißen Overalls bildete einen Halbkreis um die Leiche. Gelbe und rote Markierungen klebten an Baumstümpfen, lagen in den Pfützen. Der Fotograf der Kriminaltechnik stapfte in Gummistiefeln durchs Moor, und ein Mann hockte ein paar Meter von der Leiche entfernt und stocherte mit einem Ast im Gestrüpp.
Als Steinkellner Ernesto und Hochegger bemerkte, kam er auf sie zu. »Sie dürfen nicht näher ran«, sagte er und legte Ernesto eine Hand auf die Schulter. »Das ist …«
»… ein Tatort«, vollendete Ernesto den Satz. »Deshalb sind wir hier.«
»Hören Sie, Valenti«, begann Steinkellner, aber auch diesmal kam er nicht weit.
»Beantworten Sie keine Fragen«, rief der Mann mit dem Ast. Er warf ihn zur Seite und strich sein Hemd glatt. Ein paar Schlammspritzer zierten die Knopfleiste.
»Staatsanwalt Auffenstein«, sagte Ernesto und streckte ihm die Hand entgegen.
Auffenstein ignorierte die Geste. »Sie haben hier nichts zu suchen«, sagte er und winkte dem Beamten, der Ernesto und Hochegger gefolgt war. »Bringen Sie diese beiden Herren von hier weg.«
»Ich gehe erst, wenn ich ein paar Antworten habe«, sagte Ernesto.
Fritz Hochegger nahm seinen Fotoapparat in Anschlag und drückte ab.
»Fotografiert wird hier nicht«, sagte Auffenstein. »Wenn Sie nicht sofort verschwinden, lasse ich Sie verhaften.«
Hochegger hob die Arme und grinste.
»Meine Güte, sind Sie unentspannt«, sagte Ernesto. »Ich will doch nur ein paar Eckpunkte.«
»Das ist nicht so einfach«, meldete sich Steinkellner.
»Sie sind still«, fuhr ihn Auffenstein an.
»Herr Staatsanwalt«, sagte Ernesto, »ich schreibe den Artikel, egal, ob Sie etwas sagen oder nicht. Wenn Sie meine Fragen beantworten, haben Sie zumindest einen Hauch von Kontrolle.«
»Ich kann Sie wohl nicht davon abhalten.«
»Wer ist der Tote?« Ernesto schielte an Auffenstein vorbei, um einen Blick auf die Leiche zu erhaschen.
Die Männer der Tatortgruppe hoben den Toten gerade aus dem Schlamm und betteten ihn auf eine Bahre. Wolfgang Havlicek, Chef der Spurensicherung, trat nahe heran und inspizierte den Kopf.
»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen«, meinte Auffenstein und verschränkte die Hände vor der Brust.
»Können Sie nicht, oder wollen Sie nicht?«, fragte Ernesto. »Haben Sie schon Hinweise auf den Todeszeitpunkt?«
»Auch da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Wir müssen die Obduktion...