Kapitel 1
SHOMALI-EBENE, AFGHANISTAN
Die beiden Humvees der 116. Infanteriekampfbrigade der U.S. Army National Guard befanden sich auf vertrautem Terrain. Der steinige Bergrücken, auf dem sie standen, gab den zehn amerikanischen Infanteristen ein Gefühl von einstweiligem Schutz und Sicherheit. Nach mehreren Stunden schweißtreibender Patrouille war es für sie ein Vergnügen, Feierabend zu machen und in die vorbereiteten Stellungen zurückzukehren.
Ihre Einheit war eine geschlossene Truppe aus Virginia, die seit Jahren zusammen trainierte, und die meisten der jungen Soldaten waren gute Freunde, die allesamt aus den Städten des üppig bewachsenen Shenandoah-Tals stammten. Vier von ihnen waren Afroamerikaner, darunter der bullige Sergeant Javon Anthony. Die 116. konnte ihre Herkunft bis zur berühmten Stonewall-Brigade aus dem Bürgerkrieg zurückverfolgen, aber in der Armee von heute hielt man es für politisch inkorrekt, diesen problembehafteten Abschnitt der amerikanischen Geschichte weiterleben zu lassen. Daher hatte man sich, als die Brigade in die 29. Infanteriedivision eingegliedert worden war, von dem alten blaugrauen Ärmelabzeichen verabschiedet, das den in einen Umhang gehüllten General Stonewall Jackson auf seinem PferdLittle Sorrel zeigte. Nur die Silhouette von »Stony on a Pony« war übrig geblieben.
Sergeant Anthony war das völlig egal. Für ihn beschränkte sich die Geschichte auf die letzte Woche, auf gestern, auf die letzte Stunde. Die Zeit in Afghanistan brachte einen Mann dazu, sich nur auf das zu konzentrieren, was vor ihm lag. Anthony saß in seinem Humvee, lauschte dem Summen des Funkverkehrs und stellte sich die Frage, die jeden Anführer plagte:Habe ich auch wirklich alles getan, was ich tun kann?
Mit seinen dreißig Jahren war der Sergeant der Älteste in der Gruppe, und er kannte jeden seiner Soldaten. Während der gesamten aktuellen Stationierungszeit, die nun schon sechs Monate andauerte, war er mit ihnen zusammen gewesen. Bis jetzt hatten sie Glück gehabt. Keiner von ihnen hatte mehr als einen Sonnenbrand und ein paar Kratzer davongetragen, während sie ihren schier endlosen, eintönigen und gefährlichen Routine-Patrouillendienst verrichteten. Er war froh, als nun die Nacht über die Berge hereinbrach und im Kalender ein weiterer Tag bis zur Heimreise gestrichen werden konnte.
Der Trupp hatte bereits oben auf dem Bergkamm Stellung bezogen. Von hier aus überblickten die Männer einen Sicherheitskontrollpunkt der afghanischen Polizei, der etwa fünfzig Meter entfernt an der im Tal verlaufenden Straße lag. Die grobschlächtig aussehenden Polizisten hatten Fahrzeuge in die vorbereiteten Standplätze gewunken, und ihr Anführer, ein junger Mann, näherte sich den Wageninsassen, um sich eine Zigarette zu schnorren und die Passwörter zu überprüfen. Er trug einenPakol auf seinem schwarzen Haar – die traditionelle runde afghanische Kopfbedeckung –, eine Tarnuniform aus nicht zusammenpassenden Kleidungsstücken sowie staubige Sandalen. Über die rechte Schulter hatte er eine Kalaschnikow geschlungen, Modell AK-47. Sergeant Abdul Aref war ein großer Mann mit einem schmalen Gesicht, das von einer Hakennase dominiert wurde. Er sprach ein wenig Englisch, und seine besorgten Augen verrieten eines: Er war genauso froh wie Anthony, dass die Amerikaner wie jeden Abend in ihre vertraute Stellung zurückgekehrt waren. Diese zusätzliche Feuerkraft, die sich in unmittelbarer Nähe des Wachpostens der Polizei befand, hatte dazu beigetragen, hier den Frieden zu wahren.
Es war eine taktische Entscheidung gewesen, die US-Truppen als Verstärkung an den Kontrollpunkten entlang der Hauptstraßen in Afghanistan einzusetzen. Die Befehlshaber hatten befunden, dass es ein Fehler wäre, alle Soldaten in große Lager zurückzuziehen, da sie so die Nacht dem unerbittlichen Feind überließen. Die ständige Präsenz an den Checkpoints, verbunden mit der Anwesenheit afghanische