Sie hatte einen Strauß wunderschöner Frühlingsblumen in der Hand. Fröhlich lief sie den Weg entlang auf das Haus zu. Gleich würde sie der Mutter gegenüberstehen und ihr die Blumen überreichen. Etwas kitzelte sie an der Nase. Sie spürte, dass sie gleich niesen musste. In dem Moment öffnete sie die Augen und stellte entsetzt fest, dass sowohl die Wiese als auch der Blumenstrauß verschwunden waren.
Denise seufzte auf und drehte den Kopf zur Seite. Krampfhaft schloss sie erneut die Augen und versuchte ein wenig weiter zu dösen.
Nach einiger Zeit musste sie jedoch feststellen, dass der schöne Traum unwiederbringlich verschwunden war.
Geblieben war das Vogelgezwitscher, das zum geöffneten Fenster hereindrang.
Sie holte tief Luft und streckte sich. Ein wunderschöner Tag lag vor ihr, den sie mit Freude beginnen wollte. Noch während sie darüber nachdachte, was sie an diesem Tag unternehmen würde, spürte sie, wie sich eine dunkle Wolke zwischen sie und die Sonne schob. Etwas war geschehen, das ihre Freude trübte. Jetzt fiel es ihr auch wieder ein. Der überraschende Besuch einer fremden Frau gestern Nachmittag hatte das Leben der Familie ziemlich durcheinandergewirbelt.
Ruckartig setzte sie sich auf. Ein unangenehmes Gefühl kroch über ihren Rücken von der Hüfte bis in den Nacken hinauf. Es hätte nicht viel gefehlt, und ihre Haare hätten sich gesträubt.
Instinktiv ahnte sie, dass ihr Leben erst mal nicht mehr so verlaufen würde wie bisher. Was wollte Karin, die erste Frau ihres Vaters? Warum war sie so plötzlich aufgetaucht, nachdem sie mehr als zwanzig Jahre nichts mehr von sich hatte hören lassen?
Zögernd stellte sie die Beine auf den Boden und überlegte, ob sie tatsächlich schon aufstehen sollte. Die Freude auf den kommenden Tag war ihr gründlich verdorben. Dann jedoch fiel ihr die Mutter wieder ein. Ihren entsetzten Blick würde sie wohl nie mehr vergessen können, ebenso den von Raoul, ihrem Halbbruder. Immerhin war er der Sohn von Karin, auch wenn er das stets versucht hatte zu vergessen.
Es half alles nichts, sie musste aufstehen. Einmal würde sie ihr Zimmer verlassen müssen, sosehr sich ihr ganzer Körper auch weigerte. Endlich lief sie in das kleine angrenzende Bad, wusch sich und bürstete ihr langes schwarzes Haar, bis es glänzte. Dann schlüpfte sie in eine weiße Caprihose und ein hellblaues Shirt, das ihre dunklen Haare besonders gut zur Geltung brachte.
Leise öffnete sie die Zimmertür und lauschte. Im Haus war noch alles still. Mit nackten Füßen lief sie die Treppe hinunter und zur Küche, aus der verhaltenes Geklapper von Geschirr drang. Ihre Mutter stand an der Spüle und beseitigte gerade die letzten Überbleibsel der gestrigen Feier.
»Mamsi?«, fragte sie leise.
Erschrocken drehte sich die Frau um. »Denise? Du bist schon wach? Ich war extra leise, um niemanden zu stören. Eigentlich wollte ich zuerst die Küche aufgeräumt haben, ehe ich Kaffee mache. Hast du von den anderen schon etwas gehört?«
»Du meinst Karin?«
Eva nickte. »Der Schreck sitzt mir noch immer in allen Knochen. Ich hab das Gefühl, ungewollt in einen Albtraum geraten zu sein, aus dem es kein Entrinnen gibt.«
»Mir hat es die ganze Freude auf den heutigen Tag verdorben«, stimmte Denise zu. »Was sagt denn Paps dazu? Hat er sich irgendwie geäußert? Sein Gesicht gestern hat irgendwie gar nichts ausgedrückt. Er wirkte weder erschrocken noch verärgert noch zornig. Immerhin müsste er nach allem, was diese Frau ihm angetan hat, mehr als böse auf sie sein. Stattdessen hat er sich höflich mit ihr unterhalten.«
»Dein Vater besitzt sehr viel Selbstdisziplin. Das ist auch gut so. Ich stelle mir mit Grausen vor, wie es sich gestern angefühlt hätte, wäre die Situation eskaliert. So konnten wir wenigstens in Ruhe unsere Mahlzeit genießen, die ich mit viel Liebe und Mühe zubereitet hatte. Es wäre schade gewesen um den schönen Braten.« Eva versuchte ein Lachen, das ihr jedoch kläglich misslang.
»Ach Mamsi, dich kann auch nichts aus der Ruhe bringen. Ich beneide dich um deine guten Nerven. Als ich heute Morgen aufgewacht bin, hatte ich gar keine Lust, aufzustehen. Der Gedanke daran, dieser Frau wiederbegegnen zu müssen, hat mir alles verleidet. Warum hast du ihr angeboten, dass sie in unserem Gästezimmer übernachten kann?«
»Was hätte ich denn tun sollen? Hätte ich es nicht gesagt, wäre mit Sicherheit