Kapitel 1
12. November 1815
Nach einigen milden Tagen voller warmer Sonnenstrahlen, die sich auf den letzten goldenen Blättern brachen, meldete sich der Winter ohne Vorankündigung und fegte mit klirrender Kälte über das Land.
Der Blick aus dem Fenster der Kutsche ließ Bess aus Gedanken hochschrecken. Dunkle Wolken türmten sich am Horizont und aus dem böigen Herbstwind schien ein ausgewachsener Sturm zu werden. Sie klopfte an die Vorderwand, um anzuhalten, und kurz darauf öffnete der Kutscher die Tür. Eine eisige Bö blies Bess beinahe die Haube vom Kopf.
„Das Wetter scheint umzuschlagen, Mullins. Denken Sie, wir schaffen es noch rechtzeitig vor dem Sturm anzukommen?“, rief sie in die Kälte.
„Solange es nicht anfängt zu schneien, sollten wir zum Dinner zurück in Amberling House sein, Madam! Die Pferde sind noch munter und es sind keine sechs Meilen mehr“, erwiderte der alte Kutscher.
„Gut, dann lasst uns nicht zögern. Meine Schwester wartet sicher schon.“ Bess schloss die Tür und kuschelte sich tiefer in ihren pelzgefütterten Umhang. Obwohl die junge Frau dankbar war um die komfortable Kutsche, konnte sie es nicht erwarten, in ihr modernes, warmes Zuhause zu kommen. Mit der geöffneten Tür war es kalt geworden in dem Gefährt, doch mehr noch als die gefallenen Temperaturen ließen sie die Erlebnisse des Nachmittags erzittern. In diesem Moment hätte sie nicht erklären können, ob es die plötzliche Kälte oder ihre Wut über Mr Eames und seinesgleichen war, die ihr Schauer über den Rücken jagte.
„Ach wär ich nur ein Mann!“, rief Bess frustriert.
„Nun sind Sie aber eine Dame, Miss, und daran lässt sich nichts ändern“, erwiderte Bess’ Zofe Gwen, die ihr gegenüber saß. Die treue Dienstbotin kannte Bess schon ihr ganzes Leben lang. Sie war mehr eine Vertraute als eine Angestellte. Auch wenn Gwen mitunter zu impertinentem Verhalten ihrer Herrin gegenüber neigte, was eine andere als Miss Berwin wahrscheinlich nicht tolerieren würde, so schätzte Bess doch insgeheim die praktische Natur und die trockene Art ihrer alten Gwen.
„Wär ich ein Mann, könnte ich diesen anmaßenden Schuft zum Duell fordern oder ihm zumindest ein blaues Auge verpassen!“, setzte sie daher nach, anstelle Gwen für ihr Verhalten zu schelten.
„Wären Sie ein Mann, dann würde der Kerl gar nicht erst frech werden, Miss“, entgegnete Gwen.
„Du hast ja recht“, gab Bess resigniert zu, „das führt zu nichts. Aber ich hasse es, mich so ohnmächtig zu fühlen. Dieser Nachmittag gehört zu den schrecklichsten meines Lebens. Was soll ich jetzt nur machen? Ohne das Londoner Projekt wird es sehr schwer, Gwen.“
Frustriert seufzte sie auf und steckte ihre kalten Hände in den Muff. Sie hatte solche Hoffnungen in die Unterredung mit dem Geschäftspartner ihres verstorbenen Vaters gesetzt. Doch nun sah alles völlig anders aus.
Hugo Eames, ein Geschäftspartner von George Berwin, hatte die Tochter dessen sehr höflich, wenn auch erstaunt, empfangen. Obwohl ihr seliger Vater regen Handel mit Eames betrieben hatte, hatte Bess selbst, seit sie die Geschäfte offiziell übernommen hatte, wenig mit diesem Herrn zu tun gehabt.
Bess war in das Kontor geführt worden, von welchem aus Eames sein Unternehmen, das mit Stahl und militärischen Gütern handelte, führte. Es war ein großes Haus in Birmingham und als solches dem Gebäude, das Berwin& Sons dort besaß, nicht unähnlich. Zwar lebte die Familie Berwin schon seit Jahren außerhalb auf ihrem Gut Amberling, doch Bess kümmerte sich selbst um alle Belange und war daher auch oft in der Fabrik in der Stadt. Eames suchte sie allerdings zum ersten Mal direkt auf, da dieser in den letzten Monaten auf keinen Schriftverkehr reagiert hatte.
Das dunkle mehrstöckige Haus von Eames Cie. grenzte direkt an die Gießerei des Unternehmens an und wirkte ziemlich ungepflegt.
Die Geschäftsräume, durch welche man sie geführt hatte, waren düster und staubig. Niemand der Angestellten sprach und das einzige Geräusch war das Kratzen von Federn auf Papier. Bess sah sich erstaunt um und verglich diese grauen unkomfortablen Räumlichkeiten im Geiste mit den fröhlich vor Geschäftigkeit summenden Werkstätten und Büros ihrer eigenen Häuser.
Eames hatte Bess und Gwen, die man als Anstandsdame gelten lassen konnte, in ei