: Rachel Kushner
: Harte Leute Essays
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644009585
: 1
: CHF 10.00
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Rachel Kushner ist für ihren Mut, ihren Ehrgeiz und ihren Killerinstinkt bekannt. In Harte Leute versammelt sie eine Auswahl ihrer Essays, die sich mit den drängendsten kulturellen, künstlerischen und politischen Themen unserer Zeit ebenso befasst wie mit Kushners schriftstellerischen Grundlagen und Wurzeln. Das Buch enthält Texte über Jeff Koons, Denis Johnson und Marguerite Duras, über den Besuch in einem palästinensischen Flüchtlingslager, ein illegales Motorradrennen in Baja California, die wilden Streiks im Italien der Siebzigerjahre, ihre Liebe zu Oldtimern und ihr Leben als Jugendliche in der Musikszene von San Francisco. Es schließt mit einem Finale furioso: einem wilden Manifest über «harte Leute». Zwanzig rasiermesserscharfe Essays von einer der großen Stimmen der zeitgenössischen US-Literatur.

Rachel Kushners Romane Flammenwerfer (2015), Telex aus Kuba (2017) und Ich bin ein Schicksal (2019) waren New-York-Times-Bestseller. Für ihr Werk wurde sie mit dem Prix Médicis ausgezeichnet und war für den Booker Prize, den National Book Award, den National Book Critics Circle Award und den Folio Prize nominiert.Ihre Bücher sind in 27 Sprachen übersetzt. Rachel Kushner lebt in Los Angeles. Zuletzt erschien von ihr der Essayband Harte Leute (2022).

The Girl on a Motorcycle


Wenn ich an Sommertagen zum Spielen nach draußen geschickt wurde, versteckte ich mich oft in der Garage. Deren Attraktionen für ein Kind waren ein Roller mit Holzrädern, mit dem ich auf dem glatten Zementboden herumfuhr; stapelweise Pfirsichkisten, die geplündert werden konnten, bis meine Mutter Zeit fürs Einmachen fand; und eine 1955er Vincent Black Shadow. Die Vincent war das Motorrad meines Vaters, das er 1965, drei Jahre vor meiner Geburt, in England gekauft hatte. Meine Eltern lebten zu der Zeit mit meinem älteren Bruder, der noch ein Baby war, in einer Wohnung ohne fließend warmes Wasser im Londoner Stadtteil Kentish Town, damals ein Arbeiterviertel, in dem auch ein berühmter Theoretiker der Arbeiterklasse – Karl Marx – einmal gelebt hatte. Während meine zweiundzwanzigjährige Mutter oben auf dem Herd Windeln auskochte (in einem Topf, den sie an einem Gemeinschaftswasserhahn im Flur füllte), verbrachte mein Vater die Tage damit, auf der Straße vor dem Mietshaus an seinem Motorrad zu werkeln. Wenn es zu dunkel dafür wurde, ging er in die Kneipe, um Bücher zu lesen, denn der Strom in der Wohnung meiner Eltern lief über einen Münzautomaten und war unerschwinglich, zumindest für sie. Mein Vater behauptet noch heute, dass Kneipenkultur und Klassenbewusstsein zusammengehörten, weil alle des kostenlosen Stroms wegen in Bars gingen. (Mit «alle» meint er, glaube ich, Männer.) Aber an Guy Fawkes Night, so erzählt man sich in unserer Familie, blieb mein Vater zu Hause bei meiner Mutter, und sie sahen gemeinsam aus dem Fenster und schauten zu, wie die Leute ausgediente Möbel und anderen Müll zu einem lodernden Feuer auf der Straße zerrten, wie es an diesem Tag, zum Gedenken an Guy Fawkes’ 1605 unternommenen Versuch, das Parlament in die Luft zu jagen, Brauch war. Als eine Frau einen leeren Kinderwagen zum Feuer schob, drückte meine Mutter den Kleinen schnell meinem Vater auf den Arm und rannte hinunter, um sich den Wagen zu holen. Sie wollte ihn so unbedingt haben, dass sie die Frau unter Tränen anflehte, ihn nicht zu verbrennen. Die Frau lenkte ein und gab ihn meiner Mutter. Es war ein Silver Cross – Luxusausführung –, allerdings ziemlich verdreckt und wegen einer ausgeleierten Feder krängend. Meine Mutter liebte ihre schiefe Kiste und schob meinen Bruder darin gern durch den Regent’s Park, während mein Vater endlos an seiner Vincent herumbastelte.

Gelegentlich fuhr mein Vater auf der Vincent zum Ace Cafe, einem rund um die Uhr geöffneten Diner mit gigantischem Neonschild, in dem das Phänomen des «Café-Rennens» populär gemacht wurde. Eine Vincent Black Shadow war exotisch im Ace, wo die Leute zumeist mit Rennlenkern und zurückversetzten Fußrasten aufgemotzte Triumphs,BSAs und Nortons besaßen, aber zu ihrer Zeit war die Vincent eine sehr schnelle Maschine mit gigantischem Motor (1000 ccm). Als mein Vater das erste Mal zum Ace rausfuhr, das an einer Ringstraße im Nordwesten Londons lag, war draußen vor dem Haus, wo die Motorräder in funkelnden Reihen geparkt standen, gerade ein Streit im Gange. Irgendein irregeleiteter Störenfried verteidigte die Mods (im Ace traf sich ausschließlich die Rockerszene). Mary Q