: Kristin Harmel
: Das Verschwinden der Sterne Roman
: Verlagsgruppe Droemer Knaur
: 9783426463369
: 1
: CHF 13.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 400
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
So außergewöhnlich wie herzergreifend: ein dramatisches Frauenschicksal zur Zeit des 2. Weltkriegs Eine junge Frau nutzt ihr Wissen über die Wildnis, um jüdische Flüchtlinge vor den Nazis zu retten - bis ein grausames Geheimnis alles zu zerstören droht. Seit sie als kleines Kind aus ihrem Elternhaus entführt wurde, ist Jona fast auf sich allein gestellt in der unerbittlichen Wildnis Osteuropas aufgewachsen. 1942 trifft sie tief im Wald auf eine Gruppe Juden, die den Nazis entkommen konnten. Jona ist fassungslos, als sie erfährt, was in der Welt geschieht. Sie bringt den Flüchtlingen alles bei, was sie über das Überleben abseits der Zivilisation weiß. Doch dann treibt ein bitterer Verrat Jona zur Flucht. Als sie sich ausgerechnet in einem von den Deutschen besetzten Dorf wiederfindet, muss sie sich einer Erkenntnis stellen, die ihr ganzes Leben verändert: Sie ist nicht die, die sie zu sein glaubte ... Einfühlsam, berührend und gleichzeitig hochspannend erzählt Kristin Harmel eine eindrucksvolle Geschichte von Hoffnung, Liebe und Mut in finsteren Zeiten. Entdecken Sie auch die anderen bewegenden historischen Romane der Bestsellerautorin: - Solange am Himmel Sterne stehen - Heute fängt der Himmel an - Ein Ort für unsere Träume - Das letzte Licht des Tages - Das Buch der verschollenen Namen

Kristin Harmel arbeitet als Autorin und Journalistin. Mit ihrem Debüt Solange am Himmel Sterne stehen landete sie einen weltweiten Bestseller. Sie lebt mit ihrem Mann in Orlando, Florida.

Kapitel2


1928

Das Mädchen aus Berlin war acht Jahre alt, als Jerusza ihr zum ersten Mal beibrachte, einen Mann zu töten.

Natürlich hatte Jerusza den Rufnamen des Kindes verworfen, sobald sie, sechs Jahre zuvor, den frischen, kühlen Rand der Wälder erreicht hatten. Inge bedeutete »die Tochter eines heldenhaften Vaters«, und das war eine Lüge. Das Kind hatte jetzt keinen Elternteil mehr bis auf den Wald selbst.

Außerdem hatte Jerusza von dem Augenblick an, in dem sie zum ersten Mal das Licht über Berlin sah, gewusst, dass das Kind Jona genannt werden sollte, was auf Hebräisch »Taube« bedeutete. Sie hatte es gewusst, schon bevor sie das Muttermal des Mädchens sah, das mit der Zeit nicht verblasst, sondern kräftiger, dunkler geworden war, ein Zeichen, dass dieses Kind etwas Besonderes war, dass es zu etwas Großem bestimmt war.

Der richtige Name war von entscheidender Bedeutung, und die alte Frau konnte Jona nichts anderes nennen als das, was sie war. Sie erwartete, natürlich, im Gegenzug dasselbe, Respekt vor ihrer wahren Identität. Jerusza bedeutete »angenommenes Erbe« – eine Anspielung auf die magischen Kräfte, die sie von ihrer eigenen Linie erhalten hatte, und ein Tribut an die Tatsache, dass sie vom Wald selbst angenommen worden war –, und das war der einzige Name, bei dem Jona sie nennen durfte. »Mutter« bedeutete etwas anderes, etwas, das Jerusza nie sein würde, nie sein wollte.

»Es gibt Hunderte von Arten, ein Leben zu nehmen«, erklärte Jerusza dem Mädchen an einem schwindenden Julinachmittag kurz nach dem achten Geburtstag des Kindes. »Und du musst sie alle kennen.«

Jona, die dabei war, einen winzigen Zaunkönig aus einem Stück Holz zu schnitzen, sah auf. Sie hatte damit begonnen, sich zur Gesellschaft Geschöpfe zu gestalten, was Jerusza nicht verstand, denn sie selbst schätzte Einsamkeit mehr als alles andere, aber es schien ein harmloser Zeitvertreib zu sein. Jonas Haar, in der Farbe der tiefsten sternlosen Nacht, ergoss sich über ihren Rücken, wallte über vogelartige Schultern. Ihre Augen – endlos und beunruhigend – waren trübe vor Verwirrung. Die Sonne stand tief am Himmel, und Jonas Schatten erstreckte sich hinter ihr bis zum Rand der Lichtung, als versuchte er, in die Bäume zu fliehen. »Aber du hast mir doch immer gesagt, dass das Leben kostbar ist, dass es Gottes Geschenk an die Menschheit ist, dass es beschützt werden muss«, erwiderte das Mädchen.

»Ja. Aber das wichtigste Leben, das du beschützen musst, ist dein eigenes.« Jerusza streckte eine Hand flach aus und legte sie mit der Kante an ihre eigene Luftröhre. »Wenn jemand kommt, um dich zu holen, kann ein harter Schlag hier, korrekt ausgeführt, tödlich sein.«

Jona blinzelte ein paarmal, sodass ihre langen Wimpern ihre Wangen berührten, die unnatürlich blass waren, immer blass, obwohl die Sonne unerbittlich auf sie herunterbrannte. Als sie den hölzernen Zaunkönig neben sich auf dem Boden ablegte, zitterten ihre Hände. »Aber wer sollte denn kommen, um mich zu holen?«

Jerusza starrte das Mädchen voller Missbilligung an. Sie hatte den Kopf in den Wolken, Jeruszas Lehren zum Trotz. »Du törichtes Kind!«, fauchte sie.

Das Mädchen zuckte vor ihr zurück. Es war gut, dass das Mädchen Angst hatte; entsetzliche Dinge würden geschehen. »Deine Frage ist die falsche, wie üblich. Es wird einmal ein Tag kommen, da wirst du froh sein, dass ich dich gelehrt habe, was ich weiß.«

Es war keine Antwort, aber das Mädchen würde sie nicht gegen sich aufbringen. Jerusza war so kräftig wie eine Bergziege, klug wie eine Nebelkrähe, rachsüchtig wie eine Elster. Sie lebte jetzt seit fast neun Jahrzehnten auf dieser Erde, und sie wusst