KAPITEL I
Das Geborgene Land, Freie Stadt Malleniaswacht,1024 n.B. (7515. Sonnenzyklus nach alter Zeitrechnung), Frühjahr
Doria Rodana von Psalí betrachtete ihre Aufzeichnungen, die ihr dabei helfen sollten, ein neues Theaterstück für das eigene Puppenspiel zu entwerfen. Die unzähligen vollgekritzelten Blätter lagen verstreut auf dem Arbeitstisch ihrer kleinen Werkstatt, in der sie das Schnitzen der Stöcke, das Ausschneiden der Schablonen, das Anmalen der Figuren und Marionetten sowie sämtliche Arbeiten an Bühne und Staffage vornahm.
Aber richtig voran kam sie nicht.
Das lag nicht nur an der vorsommerlichen Hitze, die drückend auf der Stadt lag und vom Wind noch in den letzten schattigen Winkel getragen wurde. Wegen der Temperatur trug die zierliche junge Frau nur ein leichtes Untergewand, darüber eine Schürze gegen Tintenflecke und Farbspritzer.
Was ist nur los? Wieso gelingt es mir nicht?
Leise klimperte das metallene Musikwalzenspiel auf der Anrichte ein Lied, in das sich sanfte dunkle Töne des Holzwindspiels vor dem Fenster mischten.
Was Rodana normalerweise in eine passende Stimmung versetzte, nervte sie heute. Sie erhob sich vom Stuhl und ging zum mechanischen Abspielgerät, blockierte den Federantrieb mit dem vorgesehenen Haltbolzen. Ein letztesPling wie zum Trotz, und nur das leise, unrhythmische Klingen des Windspiels blieb.
Straßengeräusche drangen durch die halb geschlossenen Läden, die zwar die Sonnenstrahlen abhielten, nicht aber die absonderliche Hitze, die durch die Gassen, Straßen und über die Plätze auf den acht Hügeln waberte. DasCuriosum, Rodanas Schattenspiel- und Figurentheater, befand sich auf dem Hauptmarktplatz der zweiten Erhebung.
Die Stadt war zu Ehren von Mallenia von Idoslân vor mehr als siebenhundert Zyklen gegründet worden. Schwere Befestigungen mit Wehrtürmen, Schleudern und Katapulten garantierten die Unabhängigkeit der Stadt im Vereinten Großkönigreich Gauragon. Jeder Eroberungsversuch in der Vergangenheit war dank ihnen abgeschmettert worden.
Zweihunderttausend Einwohner zählte Malleniaswacht, verteilt über acht Hügel, aber der Platz reichte nicht aus, sodass der Senat weiteren Zuzug untersagt hatte. Schwere Verbrechen geschahen trotz der Menge an Menschen selten. Neben ihnen gab es eine große Zwergengemeinschaft; auch Meldrith, Elben und Parsoi Khi wohnten in Malleniaswacht.
Und sie alle wollen meine Stücke sehen. Rodana goss gezuckertes Blütenwasser aus der Tonkaraffe in einen Glasbecher und begab sich damit an die angelehnte Werkstatttür, um von der Schwelle den Blick aus ihren hellgrünen Augen schweifen zu lassen.
Die Unterhaltungen und das Gelächter der Vorbeigehenden, das Rattern von Fuhrwerken und Klappern der Hufe waren seltener als sonst. Niemand wollte unter das sengende Gestirn treten, wenn es nicht sein musste. Die Kaufleute und Händler hatten ihre Marktstände längst abgebaut und waren in die schützenden Schatten geflüchtet.
Rodana wurde von Passanten gegrüßt und freundlich angelächelt. Sie prostete mit dem Becher in ihrer Hand zurück und erwiderte die Segenswünsche; dabei strich sie die kinnlangen blonden Haare hinter die Ohren. Ihre Fingerspitzen und die Lippen waren schwarz, wie angemalt – eine Pigmentstörung in ihrer hellbraunen Haut.
Das neue Stück desCuriosum hatte sie für den Abend in sieben Umläufen angekündigt. Dabei stand nicht einmal der grobe Handlungsrahmen.Warum habe ich mich dazu verleiten lassen?
Es sollte einmal mehr um Mostro gehen, den Famulus, der sich selbst großspurig Magus nannte und im weit entfernten Gebiet der Wunder hockte, wo er seine eigene Zauberschule errichtet hatte.
Rodana verachtete, verabscheute ihn.
Der selbstverliebte Famulus hatte einen beachtlichen Anteil an dem Unglück, das ihr und ihrer jugendlichen Aprendisa vor nicht allzu langer Zeit widerfahren war. Chòldunja hatte es letztlich das Leben gekostet.
Dass Rodana noch lebte, verdankte sie tapferen Zwergen.
Ich werde ihm niemals vergeben. Sie nutzte dasCuriosum, um Mostro mittels Geschichten auf unterhaltsame Weise