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Lass mich vorbei, Carlo!«
Wieder einmal hatte sich Ninas Bruder, das Faultier, auf der untersten Stufe der Hintertreppe breitgemacht, weil er zu bequem war, sich seine Reitstiefel im Stehen auszuziehen.
»Weshalb hast du’s denn so eilig?«, fragte er in dem verschlafenen Tonfall, der Nina zuverlässig auf die Palme brachte. Mit seinen sechzehn Jahren war Carlo bei Weitem schwerfälliger als Oma Hulda mit irgendetwas zwischen sechzig und siebzig.
»Hast du vergessen, was heute für ein Tag ist?« Ruppig drängte sie ihn zur Seite und sprang schon mit einem Satz zwei Stufen hinauf. »Heute kommt er nach Hause!«
»Und was macht dich so sicher?« Mit dem Fingernagel kratzte Carlo eine Art Muster in die Schlammkruste auf seinem Stiefelschaft. »Auf den Tag genau kann das doch keiner wissen.«
»Das Telegramm steht auf dem Sims im Salon!«, konterte Nina triumphierend. »Da heißt esAnkunft6. März – und er ist keiner, der zu spät kommt. Er ist wie ich.«
Sie drehte sich nicht noch einmal um, sondern eilte durch den Korridor bis zur Tür ihres Zimmers, riss sie auf und lief ans Fenster. Das riss sie ebenfalls auf. Beide Flügel zugleich. Die eisige Luft, die ihr entgegenströmte, fand sie nicht schneidend, sondern belebend. Obwohl der Frühling so nah war, lagen der Vorhof, die von Kastanien gesäumte Allee und der Flickenteppich der Felder noch in diesiges Weiß getaucht, und der Tag, den kein Vogel begrüßt hatte, schien sich schon wieder verkriechen zu wollen. Für Nina aber hätte ihre Welt schöner nicht sein können, nicht einmal am Weihnachtsabend, wenn die Lichter aus allen Fenstern den Schneedecken Glanzpunkte aufsetzten, als hätte jemand im All eine Kiste ausgekippt und sämtliche Sterne verstreut.
Er kommt nach Hause, er kommt heute nach Hause!
Von ihrem Fenster aus würde sie ihn schon von weit her sich nähern sehen – zuerst als weiße Staubwolke inmitten von aufgewirbeltem Schnee, aus dem sich mit jedem Galoppsprung klarer die dunkle Silhouette von Pferd und Reiter schälen würde. Nina hatte sich eigens ein Zimmer im Haupthaus ausbedungen, weil man aus den Fenstern der beiden Seitenflügel einen Ankömmling erst sehen konnte, wenn er bereits auf dem Vorhof war.
Das war nichts für sie. Sie wollte alles, was auf sie zukam, im Voraus sehen und darauf vorbereitet sein. Dass heute ihr Vater auf eine Woche Urlaub nach Hause kommen würde, wusste sie, seit letzten Freitag sein Telegramm eingetroffen war. Daran, dass er pünktlich wie angekündigt eintreffen würde, bestand für sie kein Zweifel, denn so kannte sie ihn: verlässlich wie das Amen in der Kirche, in die sie allerdings schon ewig nicht mehr gegangen war. Dann eben verlässlich wie die Heuernte, wie das Blühen der Luzerne, die Heimkehr der Kraniche, die bald wieder in ihrem weiten Delta über den Himmel ziehen würden, und die Storchennester auf den Dachfirsten.
Verlässlich wie Nina selbst.
»Mein Sohn und seine Tochter sind wie zwei Erbsen in derselben Schote«, pflegte Oma Hulda zu sagen, und Tante Sperling, Vaters Schwester, hatte schon vor Jahren angesichts einer Kinderfotografie von Nina erklärt: »Hätte mein Bruder je Zöpfe getragen, ich würde Stein und Bein schwören, dass er das Kind auf diesem Bild ist. Und wie merkwürdig – der kleine Carlo hat in den Zügen gar keine Ähnlichkeit mit ihm.«
Carlo und Nina waren Zwillinge, aber unterschiedlicher als sie beide konnten zwei Menschen kaum sein. Wann immer Carlo sich noch halb in Träumen aus dem Bett kämpfte, war Nina längst unterwegs.Hase und Igel, das war eines der ersten Schauspiele gewesen, die sie im Dachboden des Herrenhauses aufgeführt hatte. Carlo hatte in einer Doppelrolle den Igel sowie dessen Frau gegeben und Nina mangels weiterer Scha