Kapitel1
BWG Bank, Filiale Koppenstraße, Berlin
Manche Dinge haben eine unheimliche Aura, auch wenn sie eigentlich gar nicht böse sind. Ein Lkw, der Tausende von Kühen in den Schlachthof gefahren hat, ein Raum, in dem ein Mensch ermordet wurde, ein Hammer, mit dem jemand einem anderen den Schädel eingeschlagen hat.
Dieser Brief, der vor Laura lag, hatte auch eine solche Aura.
»Von der Bank«, hatte Sandra gesagt und Laura den Brief hingelegt. »Scheint von der Wohnungsgesellschaft zu sein.«
Das WortWohnungsgesellschaft sorgte dafür, dass Laura einen Stich im Magen spürte. Denn sie befürchtete, dass sie dieses Mal eine hohe Nebenkostennachzahlung erwartete. Da es auf dem gemeinsamen Konto von Laura und ihrem Mann Timo nach der letzten Autowerkstattrechnung nicht ganz so üppig aussah, hoffte sie, dass sie den Betrag bezahlen konnten, ohne an irgendwelche Reserven gehen zu müssen.
Laura atmete tief durch und zwang sich, den Brief nicht sofort zu öffnen.
Sie wunderte sich ohnehin, warum der Brief der Wohnungsgesellschaft sie in der Bank erreichte und nicht an ihre Adresse zu Hause ging. Denn sonst waren doch alle Abrechnungen immer nach Hause geschickt worden. Vielleicht, dachte sie, wurde das jetzt so gemacht, weil die Wohnungsgesellschaft nun mal zur Bank gehörte.
Zu Hause, dachte sie. Dort hatte der Tag ganz gut angefangen. Timo war schon längst aufgebrochen, weil er als Handwerker immer früher anfing, lange bevor Laura ihren ersten Kaffee getrunken hatte. Ihren erstenaufgewärmten Kaffee. Timo hatte nett sein wollen und ihr eine große Tasse Kaffee auf die Anrichte gestellt, ohne irgendetwas zu sagen, sodass Laura den Kaffee erst entdeckt hatte, als er längst kalt geworden war. So war ihr Mann, dachte sie. Wenn es darum ging, irgendwelche Filmszenen zu zitieren, in denen Darth Vader oder wer auch immer irgendeinen Commander rundmachte, war er an Wortgewalt nicht zu überbieten. Nur bei wichtigen Themen blieb er schweigsam. Vielleicht, dachte sie, war der Kaffee auch einfach nur eine unbeholfene Entschuldigung für die gigantische Verpackung des3-D-Druckers, den Timo letzte Woche gekauft hatte und dessen Verpackung noch immer den halben Flur blockierte. Tja, so ein3-D-Drucker konnte zwar angeblich alles drucken, aber achtlos auf dem Boden liegen gelassene nasse Handtücher konnte er nicht aufräumen, und Timos Socken bugsierte er auch nicht vom Fußboden des Schlafzimmers in die Waschmaschine. Egal, der Kaffee schmeckte auch aufgewärmt.
Laura war an diesem Morgen rechtzeitig aufgestanden und hätte eigentlich alle Zeit der Welt haben sollen, aber sie hatte lange und grüblerisch mit der Kaffeetasse im Garten gestanden und sich darüber geärgert, dass Timo erneut vergessen hatte, den Grill abzudecken. Immerhin fiel ihr ein, dass für die nächsten Tage Sonne vorhergesagt war und sie den Grill schon heute Abend wieder brauchen würden.
Die Filiale war eine völlig andere Welt. Einerseits ganz anders als ihr gemütliches Haus, andererseits so vertraut, dass sie schon fast miefig wirkte. Laura ertappte sich immer dabei, dass sie in der Bank anders redete und sogar anders dachte als zu Hause. Hatte sie mit dem Kostüm schon einen Teil der professionellen »Business Laura« angelegt, tat die Filiale ihr Übriges dazu. Doch es gab keinen Grund, sich heute sonderlich überlegen zu fühlen und die Aura des Mehrwissens zu verbreiten, die dazu führte, dass sich unwissende Leute voller Vertrauen – oder vielleicht Dummheit – von den Bankern windige Geldanlagen aufschwatzen ließen. Denn Laura stand heute an der Kasse, da mal wieder die Hälfte der Filiale krank war.Am Schalter hätte man früher gesagt, wo einst dieBankbeamten ihre Arbeit taten, auch wenn sie gar keine Beamten waren.
Dass auch Kundenberater an der Kasse aushelfen mussten, war bei allen Banken so, nicht nur hier. Die Mitarbeiter waren entweder krank, im Urlaub, auf Schulungen, schwanger oder im Vorruhestand. Wenn die Bank noch einige Tote auf der Gehaltsliste hätte, hätte sie das auch nicht gewundert.