ImLand derMitternachtssonne
Am 13. Mai 2017 traf ich im Yukon-Territorium ein, aber wann und wo genau ich meine Reise antreten würde, bestimmte allein Mutter Natur. Falls der Frühling zeitig einsetzte, würde ich die Tour im Norden, in der winzigen Ortschaft Old Crow am Porcupine River beginnen, der in die Beringsee mündet. Käme der Frühling jedoch spät und trieben auf den Flüssen immer noch jede Menge Eisschollen, müsste ich südöstlich von dort, vom noch kleineren Eagle Plains aus aufbrechen. Jedenfalls mussten nach meiner Wanderung über die Richardson Mountains sowohl der Peel River als auch der Mackenzie River eisfrei sein. Sonst säße ich fest und müsste warten, bis das Eis ganz geschmolzen wäre.
Sie fragen sich jetzt vielleicht, warum ich nicht einfach über die zugefrorenen Flüsse gelaufen bin? Das Dilemma war, dass sie sich mitten in der Eisschmelze befanden. Also war ihre Eisdecke einerseits nicht mehr fest genug, um sie gefahrlos betreten zu können, andererseits jedoch noch nicht offen genug, um mit einem Boot fahren zu können. Die Eisschmelze kann mehrere Wochen anhalten, und währenddessen treiben riesige Eisblöcke wie gigantische Puzzleteile schnell flussabwärts und werden für jedes Wasserfahrzeug zur Gefahr. Das Ergebnis ist eine Art Fegefeuer: Das Reisen ist schwierig und das Überqueren von Flüssen praktisch unmöglich. Selbst heute, mit modernen Transportmitteln, hat sich in der westlichen Arktis daran im Wesentlichen nichts geändert. Bis heute ist es nicht gelungen, eine Brücke über die nördlichen Ausläufer der großen Flüsse im äußersten Nordwesten Kanadas, den Mackenzie, den Peel und den Porcupine, zu bauen. In den langen dunklen Wintermonaten verkehren Schneemobile auf diesen gefrorenen Arterien des Nordens, in den Sommermonaten sind es Motorboote und Kanus. Doch während der Frühjahrsschmelze werden diese Flüsse zu unüberwindbaren Hindernissen.
Seit einigen Jahren scheint die Eisschmelze im Yukon-Territorium infolge steigender Durchschnittstemperaturen immer früher einzusetzen. Nicht zuletzt diese Erkenntnis brachte mich auf den Gedanken, dass eine transarktische Kanuwanderung im Rahmen des Möglichen liegen könnte – früher wäre so etwas bestenfalls fragwürdig gewesen. Aber wie es der Zufall so wollte, kam der Frühling 2017 ungewöhnlich spät. Da die Flüsse nach wie vor durch Eis blockiert waren, hatte ich noch etwas Zeit, und anstatt in Whitehorse herumzusitzen und die Wettervorhersagen zu verfolgen, beschloss ich, mir Old Crow anzusehen.
Wirft man einen Blick auf die Karte von Kanada, findet man Old Crow versteckt in der äußersten nordwestlichen Ecke. Es handelt sich um eine kleine Gemeinde mit eigenem Flughafen, deren etwa 300 Einwohner überwiegend der Gwich‘in First Nation angehören. Trotz seiner Abgeschiedenheit ist Old Crow durch tägliche kommerzielle Flüge mit Whitehorse verbunden. Während das Eis langsam schmolz, wartete ich in einer einsamen Hütte im Wald östlich des Ortes. Die Hütte gehörte Betty, einer Gwich’in-Ältesten in den Siebzigern, die das Dorfleben weitgehend mied und lieber zurückgezogen in Gesellschaft ihrer beiden Schlittenhunde Winston und Vicki lebte. Der Zufall hatte uns zusammengefü