KAPITEL II
Das Geborgene Land, Königinnenreich Ribasturian, Sümpfe der Ragana,1024 n.B. (7515. Sonnenzyklus nach alter Zeitrechnung), Frühherbst
Zimànja saß auf einem ausladenden Ast ihrer Lieblingstrauerweide und betrachtete das dämmernde Moor, an dessen Rand ihr Fachwerkhäuschen stand. Durch die geschwungene Fassade, die gedeckte braungrüne Farbgebung sowie den wuchernden Bewuchs mit Giftefeu, Blauranken und Moosrosen fügte es sich in die Umgebung ein. Wer nicht achtgab, lief daran vorbei.
Schilf wogte raschelnd im leichten Wind. Blaue Gasirrlichter flammten an unvorhersehbaren Stellen über den Pfuhlen und Pfützen auf, bevor sie mit einem leisen, dunklen Pfeifen erloschen und woanders neu entstanden. Nachtleuchtende Blüten bereiteten sich auf die Dunkelheit vor, die Blätter glommen in mildem Gelb und Lila. Je tiefer die Finsternis, umso mehr leuchteten sie.
Eine kniehohe beigefarbene Sumpfkatze pirschte sich im Schutz der Binsen an einen unachtsamen Bisam heran. Der Schwanz zuckte aufgeregt, während sich ihr Körper geduckt und gespannt zum Sprung über weichen Boden bewegte.
Mal sehen, wie die Jagd endet. Die Schönheit ihrer Heimat brachte Zimànja jedes Mal zum wohligen Schaudern. Wenn die Sterne über dem Moor aufzogen, ein leichter Nebel emporstieg und der Gesang der Nachttiere einsetzte, ging ihr das Herz vor Wonne auf.
Es ist kalt geworden. Zimànja schloss die Augen und lauschte dem Konzert, das von weiteren tierischen Musikanten übernommen wurde. In das zögerliche Quaken von Fröschen gesellten sich die melodischen Rufe von Wasserdommel und Seerosengleiter.Der Winter naht schnell. Ich fühle es.
Selbst in den eisigen Monden endeten die Konzerte nicht. Einer der vielen Vorteile der Sümpfe. An den warmen, von heißem Wasser aus der Tiefe gespeisten Tümpeln lebten jene Tierarten, die andernorts das Geborgene Land verließen oder sich vor Eis und Schnee verkrochen. Sie sammelten sich ringsherum und suchten Wärme und Schutz.
So wurde ausgerechnet in jenen Zeiten, in denen tödlicher Frost auf Natur und Häusern lag, der Sumpf zu einem der lebendigsten und buntesten Orte. Eine Vielfalt von Lebewesen bevölkerte die morastigen Landstriche, die sich durch drei Reiche zogen. Menschen, die sich nicht auskannten, sahen nur Schrecken und Verderben im Sumpf. Aber für eine Ragana war dieser Ort Perfektion.
Zimànja hatte eine dickwandige Flasche mit heißem, vergorenem Gewürztraubensaft dabei, der sich in Farbe und Geschmack deutlich von Wein unterschied. Die Früchte des Moostraubstocks waren sehr viel aromatischer als alles, was Reben an Hängen, in Ebenen oder auf Terrassen hervorbrachten.
Wie schade, dass ich den Famulus töten musste. Mit geschlossenen Lidern nahm sie einen Schluck, genoss den Geschmack und die Wärme, die sie durchflutete.Mostro hätte noch von Nutzen sein können. Aber der Narr griff mich an. Was hätte ich tun sollen?
Nach ihrer Rückkehr aus Enaiko hatte sie ihrer Sippe vom Verlauf ihrer Suche berichtet. Enttäuschung hatte sich breitgemacht. Alle hatten gehofft, Zimànja kehre mit dem Moordiamanten zurück, den Chòldunja vor ihrer Flucht aus den Sümpfen gestohlen hatte.
Eine unangenehme Schwere stieg in Zimànja auf. Sie blieb verletzlich, wenn es um ihre kleine Schwester ging. Große Liebe, unermessliche Enttäuschung und grässlicher Schmerz folgten aufeinander.
Warum nur? Sie seufzte und fühlte ein Brennen in den Augen.Warum hast du uns unbedingt verlassen wollen? Zimànja hatte Chòldunja geliebt und ihr viel beigebracht. Über den Sumpf. Die Geschichte und Traditionen der Ragana. Das Selbstverständnis. Die Zauberei und die Kräfte, die sie besaßen.
Lange hatte sie die kleine Schwester nach deren Verschwinden gegenüber der übrigen Familie verteidigt und die Jagd durch Cazcaira verhindern können. Gerade hatte sich Gnade für Chòldunja abgezeichnet, wenn diese sich entschlösse, zu ihren Schwestern zurückzukehren – da hatte die Nachricht von ihrem Tod den Sumpf erreicht.
Es war Zimànja bei der Suche nach Mostro nicht nur darum gegangen, die Macht des Diam