: Christopher Isherwood
: Begegnung am Fluss Roman
: Hoffmann und Campe Verlag
: 9783455015218
: 1
: CHF 16.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein großer Roman darüber, was es bedeutet, jemandem ein Bruder zu sein Nach langem Schweigen treffen zwei Londoner Brüder in einem hinduistischen Kloster am Ufer des Ganges wieder aufeinander - und mit ihnen zwei Welten, die nicht vereinbar scheinen. Zwischen den beiden entspinnt sich ein Zwiegespräch, das alte Wunden aufbricht und zu großen Fragen führt. Isherwoods letzter Roman ist eine fein gestrickte Auseinandersetzung mit östlicher Mystik und darüber, was es bedeutet, jemandem Bruder zu sein.

Christopher Isherwood wurde 1904 in der Grafschaft Cheshire als Sohn eines englischen Offiziers geboren. Nach erfolglosen Studien der Geschichte und der Medizin in Cambridge und London ging er 1929 nach Berlin. Von 1942 bis zu seinem Tod im Jahr 1986 lebte er im kalifornischen Santa Monica. Mit Werken wie Leb wohl, Berlin, A Single Man, Mr Norris steigt um und Praterveilchen zählt Christopher Isherwood zu den berühmtesten Schriftstellern seiner Generation.

Erstes Kapitel


Lieber Patrick,

Du wirst überrascht sein, nach so langem Schweigen von mir zu hören – fast so überrascht, wie ich es wäre, von Dir zu hören. Zumindest in einem Punkt scheinen wir stillschweigend übereinzustimmen: dass es keinen Grund gibt, Briefe nur um des Plauderns willen zu wechseln. Ich weiß, dass Du ein vielbeschäftigter Mann bist, und würde nicht im Traum daran denken, Dich zu belästigen, hätte sich nicht eine Situation ergeben, die peinlich zu werden droht.

Gestern erhielt ich einen Brief von Mutter, in dem sie mir mitteilt, dass Du Dich in geschäftlichen Angelegenheiten in den Vereinigten Staaten aufhältst und von dort möglicherweise in eine (nicht näher bezeichnete) Region Südasiens weiterreisen wirst. Zum Schluss schreibt sie, es wäre doch schön, wenn Du nach Indien kommen und mich besuchen könntest.

Gewiss, es mag Mutters übliches unverbindliches Gerede sein. Sie äußert sich wie immer vage, schreibt, dass Du in Los Angeles bist, nennt aber Deine dortige Adresse nicht, weshalb ich diesen Brief an Deine Heimatadresse in London aufgebe, damit er Dir nachgeschickt wird. Sie scheint nicht einmal zu wissen, welcher Natur Deine geschäftlichen Angelegenheiten sind. Normalerweise würde ich denken, dass sie mit Deinem Verlag zu tun haben, aber verlegt Ihr auch in Los Angeles Bücher? Hast Du nicht einmal gesagt, das sei ausschließlich an der Ostküste möglich? Und Südasien klingt noch sonderbarer. Aber vermutlich ist mir die neueste Entwicklung auf diesem Gebiet (wie auf so vielen anderen) einfach entgangen, und natürlich will ich mich nicht in Deine Angelegenheiten einmischen.

Ich schreibe nur wegen eines dummen Missverständnisses, das umgehend aufgeklärt werden muss. Ich räume ein, dass in erster Linie ich dafür verantwortlich bin, aber ich muss sagen, ich begreife nicht, weswegen ich – oder sonst jemand – vor Leuten, die es eigentlich nichts angeht, Rechenschaft über mein Handeln ablegen soll. Die Sache ist die: Mutter hat noch immer den Eindruck, und ich nehme an, Du und Penelope auch, dass ich mich hier in Kalkutta aufhalte, um für das Rote Kreuz zu arbeiten, wie bis vor einem Jahr in Deutschland. Aber dem ist nicht so. Ich befinde mich in einem hinduistischen Kloster ein paar Meilen außerhalb der Stadt, am Ufer des Ganges. Will sagen, ich bin hier als Mönch.

Mit dem Warum und Weshalb möchte ich Dich nicht langweilen. Ich bezweifle, dass es Dich interessieren würde. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass meine Gründe für das, was ich getan habe, jeden, der sie von außen betrachtet, rein subjektiv anmuten müssen. Sobald eine Entscheidung gefallen ist, die sich nicht rückgängig machen lässt, sind Gründe ohnehin nicht länger von Bedeutung. In wenig mehr als zwei Monaten werde ich meine letzten Gelübde ablegen.

Ich möchte Dich lediglich um einen Gefallen bitten. Es ist ein großer Gefallen, ich weiß. Könntest Du es Mutter mitteilen? Ich habe die Dinge so lange schleifen lassen, dass es mir fast unmöglich geworden ist, es