: Joyce Carol Oates
: Das Unerwartete Erzählungen | | Einfühlsam und messerscharf beweist Oates, weshalb sie eine der bedeutendsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart ist
: Ecco Verlag
: 9783753000725
: 1
: CHF 15.30
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Eine etablierte Schriftstellerin kehrt in ihren Heimatort zurück und fragt sich, was hätte sein können, wenn sie nie gegangen wäre. Eine Attentäterin denkt über die Schwere ihrer Tat nach. Eine Professorin fühlt eine starke Verbindung zu ihrer Studentin und löst in ihr weitreichende Veränderungen aus.

»Das Unerwartete« ist eine prägnante Vision alternativer Realitäten, eine Sammlung, die über die Zwänge nachdenkt, denen wir alle aufgrund der Umstände unserer Geburt und unseres Temperaments ausgesetzt sind, und die den konkurrierenden Druck und die Erwartungen insbesondere an Frauen untersucht. Fein abgestimmt auf die Nuancen unseres sozialen und psychischen Selbst demonstriert Joyce Carol Oates, warum sie nach wie vor eine unserer berühmtesten und wichtigsten Literatinnen ist.



<p>Joyce Carol Oates wurde 1938 in Lockport, New York, geboren. Sie zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart. Für ihre zahlreichen Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Award. 2019 erhielt sie den Jerusalem Prize. Joyce Carol Oates lebt in Princeton, New Jersey, wo sie Literatur unterrichtet.</p>

Das (andere) Du


Eine Buchhandlung gekauft. Hauptsächlich Secondhandbücher.

Nie herausgekommen aus deiner Heimatstadt am Eriekanal im Norden von New York.

Nie herausgewollt, weil? – du hier Familie hast, Verwandte. Freunde aus der Highschoolzeit. Ein Haus gefunden hast, nur drei Straßen von dem Haus entfernt, in dem du aufgewachsen bist.

Tatsache ist, du hast das Stipendium, das du für ein Entkommen gebraucht hättest, nicht erhalten.

Also hast du, als du mit dem Community College fertig warst, geheiratet. Den Ersten, den du zu lieben glaubtest, und den Ersten natürlich, der dich zu lieben behauptete. Und ihr, du und dein Mann, habt South Main Books gekauft, wo du als Schulkind fasziniert so viele Stunden verbracht hast.

Der betagte Eigentümer hatte bei seinem Tod eine Unmenge gebrauchter Bücher hinterlassen. Wasserfleckig, angeschmutzt. Bei Bränden angesengt. Haufenweise Bücher, auf Metallregalen aufgereiht und mit Etiketten in Druckschrift –KRIMI,SCIENCE-FICTION,UNTERHALTUNG,KLASSIKER,GESCHICHTE,MILITÄRGESCHICHTE,RATGEBER,KINDERLITERATUR – versehen. Schwankende Bücherstalagmiten, die vom Boden in die Höhe wuchsen, noch gesichtet und einsortiert werden mussten. Und im höhlenartigen Untergeschoss ein riesiger Friedhof von Taschenbüchern, die in Abfallbehältern vor sich hin schimmelten.

Trotzdem gab es Liebe an so einem Ort. Ein Universum der Bücher. Ein Universum der Menschen. Außer dass Bücher, im Gegensatz zu Menschen, Bestand hatten. Ein Buch konnte man in der Hand halten, wie man einen Menschen nicht in der Hand halten konnte. Die Seiten eines Buchs konnte man umblättern – man konntelesen.

BeimLesen trat man in eine andere Zeit ein, in die Zeit des Buchs, zwangsläufig eine Zeit, die bereits vergangen war – eine Parallelzeit. Es fühlte sich an, als täte man etwas Subversives, Heimliches – wie Träumen, nur dass es der Traum eines anderen war, nicht der eigene. Man konnte eins werden mit den Sätzen, die wie ein schmaler Wasserlauf über Steine flossen – sich kräuselnd, durchsichtig. Man konnte eins werden mit dem Fremden, der das Buch geschrieben hatte und der nichtdu war.

Du hast mit großen Augen geschaut, gebannt. Denn auf den Rücken der Bücher, selbst der billigsten Taschenbücher, war jeweils ein Name aufgedruckt.

Ein Buch ist etwas, was man in der Hand hält. Was ein Buchist, lässt sich nicht so leicht fassen.

Alle haben vorausgesagt, du würdest im ersten Jahr pleitegehen. Dann haben sie dir zwei Jahre gegeben. Drei Jahre? Fünf? Abwarten.

Wenn du morgens die Hintertür von South Main Books aufschließt, sieht du jedes Mal in den Schatten die Geistergestalt des Mädchens, das die Seiten eines Buchs umblättert – dich erschrocken anschaut, noch während es sich verflüchtigt.

Ja. Ich liebe Bücher. Sie lesen, nicht schreiben. Ich wollte nie Schriftstellerin sein, das überlasse ich anderen, die mutiger und unbekümmerter sind.

Tatsache ist, du wolltest Schriftstellerin werden, so lange du zurückdenken kannst. Eine Dichterin. Geschichten erzählen. Du wolltest deinen Namen auf einem Buchrücken sehen.

Du wolltest dieses B