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Annabelle Agnelli versucht, sich auf dem Parkplatz von Dick’s Drive-in zusammenzureißen. Nach dem, was gerade passiert ist, ist sie wie betäubt. Gelähmt. Und dann – stell dir das mal vor – schießt Annabelles zertrümmertes Ich plötzlich los wie ein Blitz. Sie umklammert die weiße Tüte, auf der in Orange das unglückliche Wort,Dick’s, steht. Ihr Burger ist noch warm. Die Cola in ihrer Hand schwappt hin und her wie eine stürmische See, als sie versucht, vor den schlimmen Bildern der nahen Vergangenheit davonzulaufen. Einzelne Pommes hüpfen lose in der Tüte herum, die nun klingt wie eine Rassel.
Natürlich hat sie diesen Spruch schon mal gehört –Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt. Ein Poster davon hängt in Coach Kwans Büro. Darauf ist die Silhouette eines Mädchens bei Sonnenuntergang zu sehen, das einen steilen Bergpfad hinaufläuft, und alles besteht nur aus sich lichtenden Wolken und herabscheinenden Gottesstrahlen und violetter Gebirgserhabenheit. Nicht aus Panik und heruntergefallenen Servietten und wehenden Haaren. Dieses Poster sieht nicht aus wiedas hier.
Wo läuft sie hin? Keine Ahnung.
Warum läuft sie? Na ja, manchmal zerbricht man einfach. Zerbrechen ist leicht, wenn man schon bröckelig ist vom Allerschlimmsten, was einem passieren kann. Es ist leicht, wenn man kaputt und schuldig ist und Angst hat. Man zerbricht, einfach so. Als ob das Zerbrechen nur auf den richtigen Moment gewartet hätte.
Annabelle Agnelli versucht jetzt also nicht mehr, sich auf dem Parkplatz von Dick’s Drive-in zusammenzureißen. Sie ist durchgedreht. Komplett durchgedreht. Sie hat ihr Auto einfach stehen gelassen und joggt den Bürgersteig entlang, zügig, in einem richtig guten Tempo. Coach Kwan wäre stolz. Sie fängt an zu schwitzen und ihre Gedanken überschlagen sich und es ist alles ein bisschen untypisch für sie, Annabelle, die glatte Einserschülerin. Sie ist für gewöhnlich lieb und nett und reißt sich zusammen, aber das war zuletzt eine schwere Aufgabe, eine gewaltige Aufgabe, eine Aufgabe, die viel, viel zu schwer für sie geworden ist.
Es wird schlimmer. Natürlich passiert das oft: Es wird schlimmer und dann noch schlimmer. Eine Abwärtsspirale, die der Schwerkraft nach unten folgt. Sie läuft schon seit wer weiß wie lange und langsam wird es dunkel. Metapher-dunkel, aber auch wirklich dunkel. Die Nacht bricht an. Große Wolken ziehen über den Himmel und drohen mit Regen. So vieles bricht über sie herein – die Nacht, der Regen, alles, weswegen sie sich bisher noch zusammengerissen hat.
Die Hälfte von Seattles viel befahrener Durchgangsstraße Broadway hat sie schon hinter sich. Dann biegt sie in die Cherry Street ab und im Handumdrehen ist Annabelle auf dem Rundweg, der sich um den Lake Washington schmiegt. Es ist März. Was bedeutet, dass die Sonne ungefähr um fünf, halb sechs untergegangen ist. Sie hat allerdings keine Ahnung, wie spät es ist. Leute mit vornübergebeugten Schultern und Kapuzen auf dem Kopf gehen mit ihren Hunden Gassi. Kleine und große Hunde werden gezogen und gezerrt – bei so einem schwarzen Himmel ist keine Zeit für luxuriöses Herumgeschnüffel. Ein Fahrradfahrer oder zwei oder zwanzig flitzen von der Arbeit nach Hause, ihre Räderzischen nur so an ihr vorbei. Rücksäcke hängen über ihren Schultern. Ihre engen, glänzenden Bikerhosen schießen durch die Dunkelheit wie leuchtend gelbe Meteorenschweife. Straßenlaternen gehen an.
Sie läuft weiter. Es nieselt ein bisschen, nicht der Rede wert. Die Burgertüte ist weg (in einem Abfalleimer, hofft sie, sicher ist sie sich allerdings nicht), aber Annabelle hat immer noch die Cola, und ihre Tasche schlägt gegen ihre Seite. Sie hat bei Dick’s angehalten, nachdem sie sich mit Zach Oh