: Olga Reznikova
: Wut der Fernfahrer Ethnografie eines sozialen Protests in Russland
: Campus Verlag
: 9783593451152
: 1
: CHF 33.80
:
: Ethnologie
: German
: 445
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Aus unterschiedlichen Regionen Russlands fanden sich vor einigen Jahren Lkw-Fahrer zusammen und gründeten in Chimki ein Protestcamp gegen eine neu eingeführte Autobahngebühr, durch die sie ihre Existenz bedroht sahen. Olga Reznikova hat 2015-2018 die »wilden Streiks« der Fernfahrer sowie das Leben ihrer Familien und Unterstützer:innen ethnografisch begleitet. Ihr Buch zeigt, in welchem Verhältnis die Bewegung zu anderen Protesten und oppositionellen Gruppen steht, und zeichnet Allianzbildungsprozesse und Widersprüche innerhalb der russischen Protestlandschaft nach. Die Analyse der Figur der »einfachen Leute« in den spontanen und emotional aufgeladenen Protesten gegen Ungleichheit und Korruption wirft eine neue Sicht auf die Zeit vor dem jüngsten Krieg Russlands.

Olga Reznikova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut in Berlin.

Prolog: Jura, ein wütender Fernfahrer


Wer 2015/2016 einmal im Fernfahrer-Protestcamp in Chimki war, erinnert sich bestimmt an den Petersburger Fahrer Jurij Jašukov (oder kurz Jura, Jurik). Im Lagerraum eines der streikenden Lkws, wo die Küche und das gemütliche Wohnzimmer des Camps organisiert waren, erzählte Jura politische Anekdoten und lustige Geschichten aus seiner Jugend oder seinem Arbeitsalltag auf den Autobahnen. Alles, was Jura berichtete, war voller Humor und Lebensfreude – und erzählt in einer harten Sprache. Nachdem er einem Journalisten ein erstes Interview gegeben hatte, in dem er in seiner drastischen Weise über die Regierung gesprochen hatte, war eine Art Beiname entstanden, mit dem man in der Öffentlichkeit und auch im Camp von ihm sprach:злой дальнобойщик (böser/wütender Fernfahrer). Viele weitere Journalist_innen, aber auch bekannte Persönlichkeiten, die ins Camp kamen, wollten unbedingt mit Jura sprechen. Und er ließ sich immer etwas Neues einfallen.

Am 7. Dezember, als die Anspannung im Camp besonders groß war, hielt Jura vor einer Journalistin der Deutschen Welle einen Monolog über das Mitleid der streikenden Fernfahrer mit den Duma-Abgeordneten, der eine große Popularität im Internet fand. Er kochte Tee in seiner Kabine und erzählte mit ernstem Gesicht und einer sehr ruhigen und mitfühlenden Stimme:2

Natürlich verstehen wir ganz und gar, wie schwer es für die Abgeordneten ist, die neuen Gesetze zu verabschieden. Wir verstehen das! Sie schlafen ja auch dort schon vor Erschöpfung auf den Stühlen ein. […] Und zudem sind sie ja noch von einer neuen Heimsuchung geplagt, ihr Rentenalter wird auf 65 erhöht. Natürlich haben sie es schwer. Den Lohn in Höhe von 400.000 [Rubel] müssen sie noch zusätzliche fünf Jahre lang erhalten. Was für eine Belastung kann ein Mensch nur haben. Und natürlich sind wir bereit, ihnen zu helfen, und arbeiten selber, bis wir siebzig sind, bis wir eine Rente kriegen. Na ja, sie sind ja schließlich Männer, die mit dem Gehirn arbeiten. Wir haben echt viel Mitleid mit den Abgeordneten. Solche Jungs! Ich sage doch, sie schlafen ein während der Sitzungen, die Tränen fließen aus Mitleid mit ihnen, wie sie ermüden. Deswegen, junge Frau, ja, sie haben es echt schwer jetzt, das muss man schon sehen. Und natürlich soll ihr Lohn erhöht werden, das ist ja eine Herkulesaufgabe! Physische Arbeit ist doch viel einfacher als die Kopfarbeit, richtig? Natürlich! Deswegen bin ich bereit zu arbeiten auch bis achtzig Jahre, Hauptsache, unsere Abgeordneten haben es nicht so schwer. Weil ich sehe, auch die Sportler werden Abgeordnete. Das sind Sportler, die bereits seit der Kindheit gewohnt sind, wahnsinnig viel Arbeit zu leisten. […] Verstehen Sie? Weil sie es so gewohnt sind, so schwer zu arbeiten, seitdem sie noch sehr klein waren, deswegen sind sie auch Abgeordnete geworden. Und ich selbst könnte kein Abgeordneter werden, ich würde da sterben. Vielleicht würde ich ein Jahr aushalten, wenn überhaupt, so verrückt ist die Belastung da. Nehmen wir die Autos. Das ist doch auch schwer, das muss man verstehen. Du musst dich hinten in einen Audi A8 oder Audi Q7 setzen und dich fahren lassen mit diesem ganzen Komfort! Habe ich recht? Das sollen Sie schon verstehen, was das für eine Belastung ist. Du wirst doch dabei fürchterlich durchgeschüttelt, dir kann es richtig übel werden. Nur schwer kann man das alles ertragen. Und hier [Jurij zeigt auf die Kabine] ist alles top, hier werden wir fit gehalten. Auf unseren prächtigen russländischen Straßen kommst du erst in eine Grube, dann in eine andere. Du kannst dich nicht entspannen und so bleibst du immer superfit, die Muskeln bleiben im Tonus. Was können wir daraus ableiten? Die Regierung kümmert sich um uns, damit wir immer jung bleiben, und sie selbst müssen von Tag zu Tag auf ihren Abgeordnetensesseln weiter verkümmern. Das heißt, die Regierung ist echt toll, sie kümmert sich um uns und um unseren gesunden Lebensstil. Aber hallo! Manche sagen, wir haben viele Krankheiten, manche sagen, dass die Fahrer unter Hämorrhoiden leiden. So ein Quatsch! Auf diesen Straßen kannst du keine Hämorrhoiden kriegen, wie denn? Du fliegst auf diesen Straßen immer wieder so auf, dass die Hämorrhoiden denken: »O nee, fahr zur Hölle, Fahrer, ich gehe lieber zu einem anderen Genossen.« […] Und wenn du Fieber kriegst, manchmal hast du 38 Grad oder 39, und musst lenken. Aber sie haben es trotzdem schwer, das müssen Sie doch auch verstehen. […] Ich glaube, das alles [das neue Gesetz, gegen das Jurij und die anderen Fernfahrer protestieren und streiken] ist wegen des Neids. Das kann man verstehen, natürlich, sie schauen uns an, wie wir arbeiten, buh. Neid. Aber Neid, das muss man auch sagen, Neid ist auch nicht gesund und sehr belastend. Stimmen Sie zu? Deswegen muss ich schon sagen, junge Frau, sie haben es echt schwer. Und wir können sie gut verstehen. Wir müssen nur kurz ausatmen, müssen nur ein wenig Luft holen [gemeint ist finanziell], wir müssen uns nur aufrappeln und dann können wir euch Jungs wieder helfen. […] Und was ich noch raten kann, ist, einen Aufruf zu starten und eine Stiftung zu organisieren für die bedürftigen Abgeordneten. Ich glaube, viele Leute werden helfen. Es gibt in der Bevölkerung viel Mitleid mit den Abgeordneten. Weil alle verstehen, wie schwer das alles ist. Nehmen wir ein anderes Beispiel. Ein Gesetz zu verabschieden, zum Beispiel das unsere. Das ist doch auch nicht sofort getan. Drei Lesungen! Das ist alles keine einfache Sache. Und was machen wir hier? Wir kichern ja nur, immer lachen wir, da hihi, da haha. Du stellst deinen Laster auf den Parkplatz [Jurij deutet mit einer ausladenden Geste auf den Parkplatz, wo die anderen streikenden Fernfahrer sich versammelt haben], da hast du gelacht, da gewitzelt. Okay, während der Transportfahrt hast du nur jeden vierten, fünften Tag die Möglichkeit zu duschen. Und? Sie müssen ja jeden Tag saunieren! Was für eine Belastung, das alles zu ertragen. In der Sauna ist es übrigens sechzig, achtzig, neunzig Grad heiß. Und [in der Duma] sind übrigens auch die Frauen halb nackt herumgelaufen. Was das für eine Belastung ist für das Herz und auch für die anderen Organe! Und bei uns ist alles top. Wir verstehen sie sehr gut, wie schwer ihr Leben ist. Und wir sind bereit, für sie weiter zu ackern. Nur: Damit wir für sie weiter ackern können, müssen wir noch auf den Beinen stehen können.

Auch unter den Fahrern sorgte Jura oft für heitere Stimmung. Seine Empathie und Hilfsbereitschaft im Protestcamp waren echt, keine Satire. Er mochte heftige Diskussionen, aber keine Konflikte. Und obwohl wir beide in manchen Fragen gegensätzliche Ansichten hatten und diese Themen uns oft lange nicht losließen, war Jura immer an Versöhnung orientiert. Dafür informierte er sich und erwartete von dem Gegenüber, dass die Diskussionen und auch die Versöhnung ernst genommen werden.

Außenstehenden erschien Jura oft als tough, sogar ein wenig grob. Er schimpfte öffentlich über dieŠtreikbreiher [Streikbrecher]3 und verdutzte mit seiner Art oft die Besucher_innen des Protestcamps. Als Jurij Schewtschuk die Streikenden besuchte, wollte er Jura Jašukov persönlich begrüßen, denn er habe ihn im Fernsehen gesehen. Doch als Jura mit dem bekannten Musiker zu sprechen begann, war dieser von der direkten Art des Fahrers schockiert und unterbrach die Unterhaltung schnell. Für die Mitstreiter_innen war Juras Rolle dagegen die des aufmerksamen Zuhörers, der sich immer loyal verhielt.

Am Abend, bevor der fünfmonatige Streik beendet wurde und die Fahrer zu ihren Familien in die unterschiedlichen Regionen Russlands zurückfahren wollten, organisierten sie ein Abschiedsfest mit allen Unterstützenden. Es wurde viel geweint und einige hielten sentimentale Reden. Jura, der seit 1979 als Fernfahrer arbeitete, sagte kurz: »Das Chimki-Camp war vieles für mich. Aber vor allem bin ich froh, eins gelernt zu haben: […] Ich bin nicht der Einzige [er machte eine rhetorische Pause] Idiot in diesem Land.« Alle lachten. Für sie war klar, was er meinte. Er hatte sein Leben lang geglaubt, er sei der Einzige, dem Gerechtigkeit, die Gemeinschaft und professionelle Solidarität nicht egal sind, hier in Chimki aber lernte er Menschen kennen, denen dies ebenfalls nicht...