Kapitel 1
Birdie
Die Oxford Street ist ein Ort, welchen ich in den vergangenen Wochen um jeden Preis vermeiden wollte – und doch gehe ich nun mit gesenktem Blick und der dunkelroten Decke als Schutzschild an der Bäckerei vorbei, in der ich letzten Winter Meredith kennengelernt hatte. Meine tränenden Augen kann ich kaum offen halten – die Schwellung ist auch über Nacht nicht besser geworden. Wahrscheinlich ist es nur eine Allergie, aber wenn ich den Moment bestimmen müsste, in dem ich in meinem ganzen Leben am schlimmsten ausgesehen habe, dann ist es wohl dieser. Ein letztes Mal wickle ich die Decke eng um meinen Körper und kämpfe mich im Tempo einer Schildkröte durch die Menschenmassen.
Der Sommer weht mit einer sanften Brise durch die Innenstadt, während die heißen Sonnenstrahlen den Asphalt zum Strahlen bringen – ein angenehmer Kontrast zu den dunklen Schatten der hektischen Beine um mich herum. Auf den beiden Laternen neben demPrimark sitzen jeweils zwei Tauben, welche sich den Rücken zukehren und gierig die Straßen nach weiteren Brotkrümeln und Imbissüberresten absuchen. Eigentlich ist es viel zu warm für eine Fleecedecke, aber in den letzten Wochen war sie mein treuer Begleiter, und es fühlt sich einfach richtig an, ein letztes Mal den weichen Stoff an meine Haut zu schmiegen.
Ich sehe rote Doppeldecker-Busse, welche von der Menge an schwitzenden Menschen zu platzen drohen, und schwarze Karren, die vorHamilton& Sons Inc. halten, um Frauen und Männer in Anzügen demImperium der Sünden auszuliefern. Wenn ich raten müsste, dann würde ich sogar behaupten, dass dem Gebäude noch zehn weitere Stockwerke hinzugefügt wurden. Beim Blick nach oben wird mir wieder schwindelig.
Ich habeihn bestimmt seit vier Monaten nicht mehr gesehen, und ich wäre dem Schicksal sehr dankbar, wenn er mir auch heute nicht über den Weg laufen würde. Es war schon schlimm genug, so zu tun, als hätte ich ihn vergessen.
Auf der Zielgeraden zur Nische der Eisdiele bemerke ich das grell leuchtende Schild, das im unregelmäßigen Rhythmus immer wieder aufblinkt. Die Warteschlange vorJamie’s Ice Cream Shop führt bis zu meiner kleinen Nische, in der ich einen hechelnden, strubbeligen Hund mit braunen Locken erspähe, dessen schlappe Ohren seine mit Pink befleckte Schnauze umrahmen.Chaplin.
Augenblicklich senkt sich mein Blick zum dunkelroten Stoff der Decke, und für einen kurzen Moment atme ich tief ein und wieder aus, bevor meine müden Füße mich über den Zebrastreifen tragen, über den ich zu ihm gelange. Kaum bin ich auf der anderen Straßenseite angekommen, sehe ich, wie die Farbe auf meinen Schultern seine volle Aufmerksamkeit gewinnt. Ein unüberhörbares Bellen erschreckt mich genauso sehr, wie die letzten Kunden der langen Schlange. Seine voluminöse Rute beginnt aufgeregt zu wedeln. Vorsichtig knie ich mich auf den glühenden Asphalt. Die Decke riecht weder nach Chaplin noch nach dem süßen Waschmittel, welches sein Frauchen immerzu verwendet. Sie riecht nach meinem Elend der letzten Wochen und den Straßen Londons. Doch Chaplin möchte den Ersatz um jeden Preis zurück.
Ich gebe ihm, wonach er verlangt, und streichle kurz über seinen weichen Kopf – eine Geste, die er voller Begeisterung über seine Decke jedoch kaum zu genießen scheint, bevor ich mich wieder aufrichte und einen Blick durch das Ladenfenster wage. Bei dem Gedanken, dass mich Juleya gesehen haben könnte, stellen sich alle Haare meines Körpers auf. Doch als ich erkenne, wer stattdessen hinter der Thekeneben Juleya steht, um einem großen Mann in einem weißen Hemd ein Tablett voller Eisbecher zu überreichen, verschlägt es mir die Sprache. Wie angewurzelt stehe ich vor der Glasscheibe und überhöre ein »Entschuldigung? Stehen Sie in der Schlange?«. Ich kann meinen Augen nicht trauen und kehre dem Fenster augenblicklich den Rücken zu, bevor ich über meine Schulter hinweg einen weiteren Blick wage, um sicherzugehen, dass ich nicht halluziniere.
Hinter der bunten Auswahl an süßen Eissorten steht eine Frau, welche ich nach unserer letzten und einzigen Begegnung nur als eine Lügnerin und Diebin bezeichnen kann. Dass sie nun für jemanden wie Juleya arbeiten würde, überrascht mich nach kurzer Überlegung nicht einmal mehr. Irgendwie passt es ja wie die Faust aufs Auge.
Meredith, die hinterhältige Frau, welche mir Chaplins Decke im letzten Winter stibitzte, nachdem sie ihre prall gefüllte Brötchentüte nicht mit mir teilen wollte.
Meredith und Juleya – ein Herz und eine Seele. Mich würde ja interessieren, wer von ihnen die andere zuerst hintergehen wird oder ob sie gemeinsam ein noch viel schlimmeres Unwetter auslösen werden. Ich schlucke, und mein Blick fällt auf Chaplin, der seine Schnauze tief im Dunkelrot der Decke versteckt. Aber es ist zu heiß, und nur wenige Sekunden später schleckt seine Zunge in wiederholenden Bewegungen an dem Wasser aus seinem Näpfchen. Zu gern würde ich mich bei Jamie bedanken, aber sie ist heute nicht im Laden ihrer Mutter – zumindest kann ich sie nirgendwo aufspüren.
Rasch dränge ich mich an den Menschen vorbei, die außerhalb des Shops ungeduldig und mit winzigen Perlen aus Schweiß auf der Stirn auf ihr Eis warten, weil sich in diesem Moment auch zwei Personen hier aufhalten, denen ich am liebsten in meinem ganzen Leben nie wieder begegnet wäre. Dabei übersehe ich im Chaos der vielen Beine einige Menschen, die ich aus Versehen anremple, und murmle leise einEntschuldigung vor mir her.
Nun weiß ich, warum ich diesen Ort meiden wollte. Zu viele Erinnerungen holen mich wieder ein, und ein Gedanke verleitet mich zum nächsten. Ich stehe wieder im Schatten desHamilton& Sons Inc.-Gebäudes, und an meinem alten Schlafplatz liegt nun ein Hund mit der Decke, auf die ich monatelang angewiesen war.
Aber mein Schicksal nimmt weiter seinen Lauf, als ich auf der anderen Straßenseite von der Seite angerempelt werde. Doch es ist nicht einfach nur irgendjemand.Er ist es – Mr Damien Hamilton persönlich. Die mit Eiskugeln gefüllten Becher, welche bis eben noch auf dem Tablett in seiner Hand aufgereiht waren, landen auf dem grauen Asphalt, um dort in nur wenigen Sekunden in bunte Farbkleckse zu verschmelzen. Ein Kunstwerk, welches bis ins kleinste Detail mein Inneres widerspiegelt. Es kribbelt, aber noch viel mehr schmerzt es in mir.
Erschrocken schauen wir uns an, und ich würde jetzt lieber im Boden versinken, als in diesem so faszinierenden Hellblau seiner Augen. Er trägt weder eines seiner grauen Jacketts noch eine Krawatte – lediglich ein weißes Hemd, wie der Mann, der eben noch von Meredith bedient wurde, und mir geht ein Licht auf. Wie konnte ich ihn nur nicht früher erkennen?
Als ich ihn mustere, fällt mir auf, dass seine Haare länger geworden sind und er sie wohl seit geraumer Zeit nicht mehr hat schneiden lassen. Auch sein Dreitagebart ist ein paar Millimeter länger als gewohnt. Er sieht immer noch gepflegt und attraktiv aus, doch selbst die kleinsten Veränderungen seines Äußeren überraschen mich. Ich bin mir nicht sicher, ob es daran liegt, dass ich ihn zuletzt vor einigen Monaten gesehen habe oder weil ich ihn anders in Erinnerung behalten habe.
Und auch sein Blick wandert über mein Gesicht und meinen Körper. Als Erstes fällt ihm wahrscheinlich auf, dass ich die Kleidung verkauft habe, die er mir geschenkt hatte.
Ich weiß nicht, ob es die Hitze der Sonne ist oder sein Blick, aber obwohl wir im Schatten seiner Firma stehen, merke ich, wie meine Wangen rot anlaufen. Dann öffnet er seinen Mund und blinzelt mehrmals hintereinander, bevor er seinen Kopf senkt. In diesem Augenblick wissen wir beide nicht mehr weiter. Ich merke, wie sehr er sich schämt, sehe die Unsicherheit in seinem Gesicht und seinen Händen.
»Birdie …«, haucht er zu meiner Überraschung, und bei dem vertrauten, tiefen Klang seiner Stimme zieht sich meine Brust zusammen.
Ich verharre für einen kurzen Moment und schüttle schließlich meinen Kopf, um mich daraufhin an ihm...