ERSTES KAPITEL
WINTERMENSCHEN
Da ist das Meer, der Wind, der ein Sturm ist, salzspritzige Gischt in ihrem Gesicht. Ein merkwürdiges wildes Hämmern, da sind Schreie und Rufe –
Ema schreckt auf. Du hast nur geträumt, das war nur der Traum, versichert sie sich. Du bist hier, in deinem Bett, in deinem Zimmer, du bist auf Solupp, nicht auf dem stürmischen Meer! Schnell steht sie auf, läuft über den kühlen Holzboden hinüber ins Bad und hält ihr Gesicht unter das Wasser. Schon besser! Sie schlüpft in ihre Hose, streift den dicken Lieblingspulli über und läuft die Treppe hinab in die Küche.
Während sie die Thermoskanne mit heißem, honigsüßem Anistee füllt, denkt Ema an Mari. Wie sehr sie ihre Freundin vermisst und wie schön es wäre, sie hier zu haben.
Leise, ganz leise schleicht sie sich an dem riesigen Sofa vorbei, mit dem Jolka seit dem Herbst erst Abend für Abend, mittlerweile auch Tag für Tag, immer mehr verschmilzt.
»Wo willst du denn hin?«, fragt Jolka und klingt, wie immer in der letzten Zeit unendlich müde.
»Nur ein bisschen raus, Luft schnappen!«
»Aber pass’ auf«, sagt Jolka erschöpft, und Ema antwortet: »Klaro!«, obwohl sie nicht so genau weiß, worauf oder womit sie dort draußen eigentlich aufpassen soll. Jolka ist im Winter nicht nur müde, sie ist auch ungewohnt ängstlich.
Seit die Nächte länger sind als die Tage, seit die Dunkelstunden sich bis in die Lichtstunden fressen, hat Jolka sich in ihre Winterversion verwandelt. Während sie das restliche Jahr über voller Energie und Ideen steckt, laut singend und weit gestikulierend durch Haus, Garten, ihren winzigen Laden und quer über