Der KirchhofPROLOG
Ein sommerlicher Sonntag gegen Abend. Eine stille Schärenkirche mitten auf einem Friedhof. Das schwarze Schindeldach erhebt sich hoch und ernst im Laubwerk, das Blinken der Sonne aus dem Westen spielt auf der roten Wand, lässt die weißen Fensterrahmen leuchten. Unsagbarer Friede in der Luft und ringsumher. Als einziger Laut nur das Flattern der Espen neben der bemoosten Mauer.
Ich habe das Eisentor zum Kirchgarten geöffnet, in den Scharnieren quietschend, fällt es mit einem dumpfen Schlag hinter mir zu, und der Kies knirscht unter meinen Füßen. Graue, verblasste Holzkreuze beiderseits des Weges, hier und da ein schwarzes eisernes mit Messingschild, dazwischen, die anderen überragend, eine Blechtafel, die man auf eine Eisenstange geschoben hat und von deren gewölbter Fläche eine rostige, vermooste Inschrift ins Auge sticht. Herrscht hier im Kreuzwald gar noch tiefere Stille als eben am Eisentor, das sich zum sonntagabendlichen Ausruhen schloss?
Ich schlängle mich zwischen den Kreuzen hindurch, taste mit den Augen nach verblichenen Inschriften, ergründe einen Namen hier, einen Namen dort. Du bist es, der da ruht? Und du bist in diesem Torf geborgen? Name auf Name, vertraut wie die eigene Kindheit, buchstabiere ich mir, jeden für sich, Hügel um Hügel, Reihe für Reihe lese ich sie: er also auch und auch sie, Junge, Alte, das Volk meiner Jugend, das zarte Kind, die zittrige Greisin, eins neben dem anderen im Schoße des Kieses, in der Reihenfolge, in der ihnen die Totenglocke getönt hat! Aus den Kammern ferner Erinnerungen schimmert der Kopf eines kleinen Mädchens hervor, ruhend auf einem Kissen aus Leinzeug, bläuliche Adern auf der siechen Schläfe, auf der blassen, eingefallenen Wange eine verirrte arme, aschblonde Strähne, in den grauen Augen der schmerzliche Glanz einer Sehnsucht, die alle Hoffnung fahren gelassen hat. Vor meinem Auge scheint eine gebückte Greisin auf, zitternd, die knotige Hand am abgenutzten Griff ihres Gehstocks, die dünnen fahlweißen Reste des lockigen Haars, die in den Furchen um das vom Leiden bleiche Gesicht herum verschwinden, vom Leben so gänzlich entkleidet schon, dass der Tod keine große Mühe mehr hat, dieses Antlitz auszulöschen. Von Hügel zu Hügel, von Kreuz zu Kreuz wandere ich, lese moosbewachsene Inschriften auf den Gräbern erloschener Menschen, Erloschener, vor Jahren und Jahrzehnten Erloschener, deren Leben den