: Ian Kershaw
: Der Mensch und die Macht Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert
: Deutsche Verlags-Anstalt
: 9783641286422
: 1
: CHF 16.10
:
: Geschichte
: German
: 592
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wie groß ist der Einfluss Einzelner auf den Lauf der Geschichte? Bestsellerautor Ian Kershaw über die prägendsten politischen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts: Lenin, Mussolini, Hitler, Stalin, Churchill, De Gaulle, Adenauer, Franco, Tito, Thatcher, Gorbatschow und Kohl
Zwölf Mächtige, elf Männer und eine Frau, die das 20. Jahrhundert in Europa tief geprägt haben, rücksichtslose, mörderische Diktatoren oder demokratische Staatenlenker: Was zeichnete diese Menschen aus, dass sie große Macht erlangten und Geschichte machten? Welche Voraussetzungen brachten sie mit? Wie weit wurden sie von den Umständen ihrer Zeit und Umgebung befördert oder getrieben? Vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrungen mit autoritären Führern ergründet der englische Historiker Ian Kershaw, einer der besten Kenner der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Bedingungen für den Aufstieg zur Macht und analysiert dabei grundsätzlich die Möglichkeiten und Grenzen 'starker' Führungspersönlichkeiten.

Ian Kershaw, geboren 1943, zählt zu den bedeutendsten Historikern der Gegenwart. Bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Modern History an der University of Sheffield, seine große zweibändige Biographie Adolf Hitlers gilt als Meisterwerk der modernen Geschichtsschreibung. Für seine Verdienste um die historische Forschung wurde Ian Kershaw mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und der Karlsmedaille. 1994 erhielt er das Bundesverdienstkreuz, 2002 wurde er zum Ritter geschlagen. Bei DVA sind außerdem von ihm erschienen 'Hitlers Freunde in England' (2005), 'Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg' (2010) und 'Das Ende' (2013). Die beiden Bände seiner großen Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa, 'Höllensturz' (2016) und 'Achterbahn' (2019), sind hochgelobte Bestseller. Zuletzt erschien von ihm 'Der Mensch und die Macht. Über Erbauer und Zerstörer Europas' (2022).

einleitung


der einzelne und der historische wandel

Inwieweit wurde Europas turbulentes 20. Jahrhundert durch das Handeln politischer Führer geprägt? Waren es diese Führer, die das 20. Jahrhundert »gemacht« haben? Oder wurden sie vielmehr von ihm gemacht? Diese Fragen sind Teil der umfassenderen Frage, wie wichtig Einzelne bei der Gestaltung von Geschichte sind. Ändern sie deren Gang grundlegend? Oder leiten sie die Flut lediglich in neue, temporäre Kanäle? Man nimmt häufig nahezu automatisch und fraglos an, politische Führer seien mehr oder weniger persönlich – oder sogar allein, wie implizit manchmal unterstellt wird – dafür verantwortlich, welchen Kurs die Geschichte nimmt. Aber wie und warum sind sie in die Position gelangt, überhaupt so handeln zu können, wie sie es tun? Welchen Einschränkungen sind sie unterworfen? Welcher Druck lastet auf ihnen? Welche Unterstützung oder Opposition bedingt ihr Handeln? Unter welchen Umständen sind die Führer in unterschiedlichen politischen Systemen erfolgreich? Und wie wichtig ist dabei die Rolle der Persönlichkeit? Inwieweit färbt oder prägt sie sogar tiefgreifende politische Entscheidungen? In welchem Maß haben politische Führer selbst durch frei getroffene Entscheidungen den Wandel bewirkt, mit dem man sie später dann identifiziert hat? Diese Fragen betreffen sowohl demokratische als auch autoritäre Führer.1

Die Frage des Einflusses des Einzelnen auf den historischen Wandel ist von Historikern häufig und wiederholt aufgegriffen worden,2 und nicht nur von diesen. So hat Lew Tolstoi viele Seiten seines 1869 erschienenen RomansKrieg und Frieden der philosophischen Reflexion über die Rolle des individuellen Willens bei der Gestaltung historischer Ereignisse gewidmet und durch die Betonung des »Schicksals« den Gedanken zurückgewiesen, sie würden von »großen Männern« geprägt.3 Indirekt lag die Frage aber stets dicht am Zentrum der historischen Forschung, seit das Studium der Geschichte im 19. Jahrhundert zu einer Fachdisziplin geworden ist. Während sie als theoretisches oder philosophisches Thema häufig untersucht wurde, ist sie jedoch selten direkt und empirisch behandelt worden.

Der deutsche Historiker Imanuel Geiss beschäftigte sich 1970 vor dem Hintergrund der in Deutschland herrschenden starken Abneigung gegen eine personalisierte Geschichtsschreibung mit der Rolle der Persönlichkeit. Diese Aversion war zum Teil auf die Ablehnung der früheren Tradition der deutschen Geschichtsschreibung zurückzuführen, die Rolle mächtiger, häufig visionärer Einzelner bei der Gestaltung der deutschen Geschichte zu überhöhen. Hauptsächlich war sie jedoch eine Reaktion auf die katastrophale jüngste deutsche Geschichte, die häufig implizit, wenn nicht sogar explizit als Werk eines einzigen Mannes, Adolf Hitlers, gesehen wurde. Der Führerkult im »Dritten Reich«, der alle »Leistungen« der »Größe« des »Führers« zuschrieb, und die Umkehr dieser Wertung nach 1945, als man nur zu bereitwillig das ganze Desaster, das Deutschland ereilt hatte, Hitler persönlich anlastete, hatten in den 1960er Jahren dazu geführt, dass man der Persönlichkeit eine Rolle in der Geschichte nahezu vollständig absprach. Dies war sowohl in Westdeutschland, wo die Strukturgeschichte vorherrschend wurde, als auch – aufgrund der marxistisch-leninistischen Betonung des Primats der Ökonomie – in extremer Weise in Ostdeutschland der Fall. Geiss schlug einen Mittelweg zwischen Übertreibung und Zurückweisung der Rolle des Einzelnen ein, ging aber nicht weit über – nicht sehr klare – Abstraktionen hinaus. »Die noch so große Persönlichkeit«, stellt er fest, »schafft nicht selbst den historischen Stoff oder formt ihn entscheidend selbst, sondern gibt ihm nur die ihr eigene persönliche Note.« Eine »große Persönlichkeit« präge »allenfalls ihrer Zeit den eigenen persönlichen Stempel« auf.4

Die starke Betonung struktureller Determinanten historischen Wandels und die Geringschätzung der Rolle des Einzelnen hatten zur Folge,