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Damenbinden, Geheimtinte, Tabakpfeifen
Spioninnen erobern das Kaiserreich
Sie war nicht schnell genug. Plötzlich steht ihr Nachbar wieder in seinem Zimmer in der Berliner Pension in der Nähe vom Kurfürstendamm, wo sie beide wohnen – und wo sie sich gerade über die militärischen Dokumente auf seinem Schreibtisch beugt. Die 25-jährige Russin Zinaida Smoljaninow rettet die Situation, indem sie den Nachbarn lachend rügt: Er sei aber unvorsichtig, sie hätte ihm ja die Pläne klauen können. Auf seine Frage, was sie denn damit anstellen wolle, kontert sie, ob er denn nicht wisse, was man mit solch wichtigen Dokumenten machen könne. Sie wisse es jedenfalls, sagt sie. Dann schlägt sie vor, dass sie die Pläne von einem Militärattaché der Russen abfotografieren lassen könnte, gegen Geld.
Doch ihr Nachbar weigert sich, schimpft, welcher ungeheuren Gefahr sie ihn und sich selbst aussetzen würde und welche Verbrechen sie ihm zutraue. Kein deutscher Offizier würde sich darauf einlassen. Sie erwidert, dass sie schon geheimere Missionen ausgeführt habe. Er müsse sein Gewissen nicht belasten und ihr nicht aktiv helfen, solle einfach nur die Pläne auf dem Tisch oder sonst wie unverschlossen liegen lassen, um den Rest kümmere sie sich dann. Er lehnt ihr Angebot ab.
Smoljaninow lässt nicht locker, spricht ihn immer wieder darauf an, fragt ihn, ob er Schulden hat. Er gibt an, dass er welche hat, etwa 5000 Mark. Auch sie benötigt Geld – und sagt, man könne mit dem Verkauf wertvoller Papiere bis zu 60 000 Mark verdienen. Ob er nicht welche beschaffen könne? Wieder und wieder wiegelt der Nachbar ab, sagt, das gehe gegen seine Ehre und sein Gewissen, droht ihr sogar mit einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft. Als er ihr wieder etwas später erzählt, dass er bald in der Eisenbahnabteilung des Großen Generalstabes arbeiten werde, bittet sie ihn erneut. Einer von den Russen, die sie kenne, würde ihr Nachrichten über die Mobilmachung an der Südostgrenze des deutschen Kaiserreichs aus den Händen reißen. Der Mann heißt Oberst von Schebekow und ist Militärattaché an der russischen Botschaft in Berlin, er kennt den Kaiser persönlich.
Es ist der Frühsommer 1905 und die Russen sorgen sich, dass die Deutschen weiter aufrüsten. Im April hatte der Reichstag beschlossen, das deutsche Heer in den kommenden vier Jahren um 10 000 Mann aufzustocken. Fünf Jahre zuvor hatte der Reichstag bereits das neue Flottengesetz angenommen und massiv aufgerüstet. Die Jahre zu Beginn des 20. Jahrhunderts stehen im Zeichen von machtpolitischen Rivalitäten: 1902 hatte das Deutsche Reich seinen Dreibund mit Österreich-Ungarn und Italien erneuert. Die Annäherung der einstigen Rivalen England und Frankreich sorgt mehr für Nervosität als für Stabilität, zumindest aus deutscher Sicht. Denn Kaiser Wilhelm II. will einen »Platz an der Sonne« für sein Reich, das inzwischen ein Industriegigant ist. Es ist allerdings auch äußerst reaktionär und militaristisch eingestellt. Wegen des aggressiven deutschen Machtstrebens schließen sich Russland, Frankreich und Großbritannien nur wenig später, 1907, zur Triple Entente zusammen.
Smoljaninow ist also sicher: Für Dokumente zur deutschen Mobilmachung würden die Russen Tausende Mark zahlen. Plötzlich lenkt der Nachbar ein, sagt, er werde sich um ein solches Dokument kümmern. Smoljaninow informiert den Oberst. Der Nachbar organisiert kurz darauf drei Schriftstücke. Die ersten beiden sind als »Geheim« markiert und tragen den Stempel der »Eisenbahn-Abteilung des Großen Generalstabes«, dazu eine Journalnummer und Unterschriften von Eisenbahn- und Militärbevollmächtigten.[1] Es geht darin um die Maßnahmen, die im Falle einer Mobilisierung im Eisenbahndirektionsbezirk Kattowitz ergriffen werden sollen. Das dritte ist