In der Nacht wälzte ich mich herum. Auch wenn ich es gewohnt war, Reden zu halten, war ich nervös. Hoffentlich triggerte diese Trauerfeier nichts in mir an, das alten Schmerz an die Oberfläche spülte. Bei Ines‘ Beisetzung hatte ich am Grab die Fassung verloren und mich nicht mehr beruhigen können. Mein Vater und mein Onkel hatten mich untergehakt, damit ich nicht hinfiel. Erbärmlich. Mein Schmerz war echt, aber gleichzeitig hatte ich mich gefühlt wie ein Schauspieler.
Auf jeden Fall würde ich Majas Rat beherzigen, mit niemandem Blickkontakt aufzunehmen. Einfach über die Trauergemeinde hinwegschauen, irgendwohin in die Ferne.
Am Morgen erwachte ich mit einem entzündeten Auge. Ella kramte eine antibiotische Salbe aus ihrem Kulturbeutel, die einen fettigen Film hinterließ. Ich sah aus, als hätte mich jemand geschlagen. Das auch noch.
Ich schlüpfte in meinen dunklen Anzug und band mir die einzige schwarze Krawatte um, die ich besaß, dann nahm ich die Jungs mit dem Auto zur Schule – damit würden wir später auch zum Waldfriedhof fahren. Etliche Schüler hatten ihre Teilnahme ebenfalls angekündigt. Um halb zehn rüsteten wir uns zum Aufbruch.
In der Kapelle begrüßte der Bestatter mich mit Händedruck. Daniel hatte ihn informiert, dass ich im Namen der Schule ein paar Worte sprechen würde. Er selbst stand abseits mit der Familie, hielt seine Mädchen fest an der Hand. Die Gruppe unterhielt sich leise und mit blassen Gesichtern.
Maja Blum saß bereits auf dem für sie reservierten Platz und hielt einige Moderationskarten auf dem Schoß. Sicher die Stichpunkte für ihre Rede. Sie wirkte ruhig und konzentriert. Ich nickte ihr zu und setzte mich ebenfalls, betrachtete das in Gold eingefasste Foto von Luisa, ihr strahlendes Gesicht. Die Urne, die Blumenkränze mit Schärpe.Dein dich liebender Daniel. Deine Töchter Tabea und Ronja. Wie gut ich mich an all das erinnerte.
Ich zog meine Rede aus der Jackettasche und linste darauf. Die Menschen um mich herum setzten sich flüsternd. Schließlich ertönte Musik.Someone like you von Adele.
Mein entzündetes Auge tränte, ich wischte vorsichtig darüber.
Der Bestatter gab Maja ein Zeichen, und sie ging in ruhigen Schritten zum Pult, legte ihr Blatt ab und ließ ihren Blick über die Gemeinde schweifen, umfing Daniel und seine Töchter mit einem liebevollen Lächeln.
»Liebe Trauergemeinde«, begann sie mit ihrer samtweichen Stimme. Ihre Rede ging zu Herzen und weit über die üblichen Worthülsen hinaus. Dass sie nicht nur Daniel, sondern auch die anderen Familienmitglieder Luisas mit du ansprach und in deren Namen etwas über die Verstorbene sagte, sorgte für eine Nähe, wie ich sie bei einer Trauerfeier noch nie erlebt hatte. »Dir, Daniel, hat deine Luisa jeden Morgen einen Kaffee ans Bett gebracht«, erzählte sie gerade. »Als ihr euch kennenlerntet, da dachtest du, das wäre nur so eine Anfangsgeschichte und dass sie damit bestimmt bald wieder aufhören würde – aber das hat sie nicht. Sie hat ihn dir bis zu ihrem letzten Tag jeden Morgen gebracht und sich zu dir auf die Bettkante gesetzt. Da habt ihr dann gern zusammen den Tag besprochen oder auch gemeinsam geschwiegen. Diese Momente mit ihr hast du genossen. Jeden Tag.«
Auch wenn ich den Entwurf bereits gelesen hatte, so brannten nun doch meine Augen. Wie würde Daniel zukünftig seine Morgen begehen? Wenn schon beim Aufwachen deutlich wurde: Sie ist nicht mehr.
Ich hätte mir einen Schluck Wasser mitnehmen sollen