: Victor Hugo
: Der Glöckner von Notre Dame. Band Drei
: apebook Verlag
: 9783961304646
: 1
: CHF 2.70
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: Erzählende Literatur
: German
Die Geschichte spielt im Jahr 1482. In den gewölbten gotischen Türmen der Kathedrale Notre-Dame lebt Quasimodo, der bucklige Glöckner. Wegen seines Aussehens verspottet und gemieden, wird er nur von Esmeralda bemitleidet, einer schönen Zigeunertänzerin, der er völlig verfallen ist. Esmeralda hat jedoch auch die Aufmerksamkeit des finsteren Erzdiakons Claude Frollo, Quasimodos Ziehvater, auf sich gezogen, und als sie seine lüsternen Annäherungsversuche zurückweist, schmiedet Frollo einen Plan, um sie zu vernichten. Aber nicht nur Quasimodo und sein düsterer Herr sind in hoffnungsloser Liebe zu der Tänzerin entbrannt - auch der tapfere Soldat Phoebus und der Dichter Gringoire verfallen Esmeralda... Ein verrückter Priester, ein vagabundierender Dramatiker, ein aufstrebender Soldat und ein missgestalteter Glöckner - sie alle sind von der Schönheit und dem Charme eines Zigeunermädchens fasziniert und gefesselt. Wer wird sie verraten und wer wird ihr treu bleiben, selbst im Schatten des Galgens? Diese bunt zusammengewürfelte Gruppe von Geächteten findet Zuflucht in den Mauern des größten Monuments des mittelalterlichen Paris, der großen Kathedrale Notre Dame. Im Laufe der Geschichte wird den Leserinnen und Lesern klar, dass nicht nur die menschlichen Charaktere, sondern auch die große Kathedrale selbst im Mittelpunkt der Geschichte steht. Victor Hugos sensationeller, stimmungsvoller Roman über dunkle Leidenschaften und unerwiderte Liebe erweckt das mittelalterliche Paris zum Leben und betrauert sein Vergehen in einem der größten historischen Romane des neunzehnten Jahrhunderts. Dieses ist der dritte von insgesamt drei Bänden.

1. Der in ein dürres Blatt verwandelte Taler


Gringoire und der ganze Wunderhof befanden sich in einer entsetzlichen Unruhe. Seit einem ganzen Monate wußte man nicht, was aus der Esmeralda geworden war: was den Herzog von Ägypten und seine Freunde, die Bettler, aufs höchste betrübte; ebenso wenig wußte man, was mit ihrer Ziege geworden war: was namentlich den Schmerz Gringoire's verdoppelte. Eines Abends war die Zigeunerin verschwunden und hatte seitdem kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Alle Nachforschungen waren fruchtlos geblieben. Einige neckische Landstreicher teilten Gringoire mit, dass sie ihr an jenem Abende in der Gegend der Sanct-Michaelsbrücke begegnet wären, wie sie mit einem Offiziere davon gegangen sei; aber dieser Ehemann nach Zigeunerbrauch war ein ungläubiger Philosoph; und überdies wußte er besser, als irgend jemand, wie sehr seine Frau noch Jungfrau war. Er hatte sich ein Urteil bilden können, welche unbezwingliche Schamhaftigkeit sich aus der Kraft des Amuletes und der Tugendhaftigkeit der Zigeunerin – beides vereinigt – ergaben; und er hatte mathematisch genau die Widerstandskraft dieser Keuschheit gegen die zweite Möglichkeit berechnet. Er war also nach dieser Seite hin beruhigt.

Demnach konnte er sich dieses Verschwinden nicht zusammenreimen. Das war sein tiefer Kummer. Er wäre noch magerer darüber geworden, wenn das ein Ding der Möglichkeit gewesen wäre. Er hatte darüber alles vergessen, sogar seine literarischen Neigungen, selbst sein großes Werk:»De figuris regularibus et irregularibus,« welches er mit dem ersten Gelde, das er bekommen würde, drucken zu lassen ausgerechnet hatte (denn er faselte vom Drucke, seitdem dass er das»Didascalon« des Hugo von Sanct-Victor, welches mit den berühmten Typen des Wendelin von Spira gedruckt ist, gesehen hatte.)

Eines Tages, als er trübselig vor dem Criminalgefängnisse vorbeiging, bemerkte er eine ziemliche Menschenmenge an einer der Türen des Justizpalastes.

»Was gibt's da?« fragte er einen jungen Mann, welcher herauskam.

»Ich weiß nicht, mein Herr,« antwortete der junge Mann. »Man sagt, dass eine Frau abgeurteilt wird, welche einen Offizier erdolcht hat. Wie es scheint, steckt Hexerei dahinter; der Bischof und der Official haben sich in die Sache gemengt, und mein Bruder, welcher Archidiaconus von Josas ist, haftet mit seinem Leben dafür. Nun wollte ich mit ihm sprechen, aber ich habe nicht an ihn kommen können wegen des Gedränges, was mir sehr unangenehm ist, denn ich brauche Geld.«

»O weh, mein Herr!« sagte Gringoire, »ich wollte, ich könnte Euch welches leihen; aber wenn meine Hosentaschen durchlöchert sind, so sind die Taler nicht schuld daran.«

Er wagte nicht, dem jungen Manne zu sagen, dass er seinen Bruder, den Archidiaconus, kenne, zu welchem er seit der Scene in der Kirche nicht hingegangen war: eine Nachlässigkeit, die ihn in Verlegenheit setzte.

Der Student setzte seinen Weg fort, und Gringoire schickte sich an, der Menge zu folgen, welche die Treppe zum großen Verhandlungssaale hinaufdrängte. Er hielt dafür, dass es nichts Besseres gäbe, die Melancholie zu verjagen, als einen Criminalproceß, bei dem die Richter gewöhnlich so viel lächerliche Albernheiten zum besten geben. Das Volk, unter das er sich gemischt hatte, ging vorwärts und drängte sich schweigend weiter. Nach einem langsamen und langweiligen Trippeln unter einem langen Gange hin, der sich im Palaste, wie der Grundkanal des alten Bauwerkes, hinschlängelte, gelangte er an eine niedrige Türe, die in einen Saal führte, welchen, über die Köpfe der wogenden Menge hinweg, seine Körperlänge gestattete mit dem Auge zu prüfen.

Der Saal war groß und düster, was ihn noch größer erscheinen ließ. Der Tag ging zur Neige; die hohen Spitzbogenfenster ließen nur einen blassen Lichtstrahl hereindringen, der halb