: Karl Philipp Moritz
: Alexander Ko?enina
: Anton Reiser Ein psychologischer Roman - Moritz, Karl Philipp - Deutsch-Lektüre, Deutsche Klassiker der Literatur - 14223
: Reclam Verlag
: 9783159619439
: Reclams Universal-Bibliothek
: 1
: CHF 8.30
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 656
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Karl Philipp Moritz' wegweisender Roman »Anton Reiser« (1785-90) führt die Idee einer ?inneren Geschichte des Menschen? erstmals zum Erfolg. Die autofiktionale Fallgeschichte erzählt von einer Selbstbefreiung aus bedrückenden pietistischen und pädagogischen Zwängen. Sie gelingt durch allmähliche Anerkennung des Individuums als angehender Poet, Prediger und Schauspieler. Dieser erste »psychologische Roman« der deutschen Literatur erscheint mit neuem, ausführlichem Kommentar und Nachwort. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Karl Philipp Moritz (15.9.1756 Hameln - 26.6.1793 Berlin) wuchs in einem religiös-restriktiven Elternhaus auf. Seit 1778 unterrichtete er am renommierten Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin. Mit Goethe hielt er sich 1786-88 in Italien auf, wo er seine Ideen zur Eigengesetzlichkeit (Autonomie) der Kunst entwickelte, die auf Goethe und die Weimarer Klassik großen Einfluss ausübten. 1789 wurde er Professor an der Berliner Akademie der Künste. In seiner Zeitschrift für »Erfahrungsseelenkunde« widmete er sich psychologischen Fragen, die Eingang in seinen bedeutenden »psychologischen Roman« 'Anton Reiser' fanden, der seine eigene, von hoher Begabung, aber tiefem persönlichen Unglück geprägte Bildungsgeschichte negativ beschreibt. Alexander Ko?enina, geb. 1963, ist Professor für Deutsche Literatur des 17. bis 19. Jahrhunderts an der Leibniz Universität Hannover.

[7]Erster Teil


[9]Dieserpsychologische Roman könnte auch allenfalls eine Biographie genannt werden, weil die Beobachtungen größtenteils aus dem wirklichen Leben genommen sind. – Wer den Lauf der menschlichen Dinge kennt, und weiß, wie dasjenige oft im Fortgange des Lebens sehr wichtig werden kann, was anfänglichklein und unbedeutend schien, der wird sich an die anscheinende Geringfügigkeit mancher Umstände, die hier erzählt werden, nicht stoßen. Auch wird man in einem Buche, welches vorzüglich dieinnereGeschichte des Menschen schildern soll, keine große Mannigfaltigkeit der Charaktere erwarten: denn es soll die vorstellende Kraft nicht verteilen, sondern sie zusammendrängen, und den Blick der Seele in sich selber schärfen. – Freilich ist dies nun keine so leichte Sache, dass gerade jeder Versuch darin glücken muss – aber wenigstens wird doch vorzüglich in pädagogischer Rücksicht, das Bestreben nie ganz unnütz sein, dieAufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften, und ihm sein individuelles Dasein wichtiger zu machen.

[10]InP[yrmont], einem Orte, der wegen seines Gesundbrunnens berühmt ist, lebte noch im Jahr 1756 ein Edelmann auf seinem Gute, der das Haupt einerSekte in Deutschland war, die unter dem Namen der Quietisten oder Separatisten bekannt ist, und deren Lehren vorzüglich in den Schriften derMad. Guion, einer bekannten Schwärmerin, enthalten sind, die zu Fenelons Zeiten, mit dem sie auch Umgang hatte, in Frankreich lebte.

Der Herr von F[leischbein], so hieß dieser Edelmann, wohnte hier von allen übrigen Einwohnern des Orts, und ihrer Religion, Sitten, und Gebräuchen, ebenso abgesondert, wie sein Haus von den ihrigen durch eine hohe Mauer geschieden war, die es von allen Seiten umgab.

Dies Haus nun machte für sich eine kleine Republik aus, worin gewiss eine ganz andre Verfassung, als rund umher im ganzen Lande herrschte. Das ganze Hauswesen bis auf den geringsten Dienstboten bestand aus lauter solchen Personen, deren Bestreben nur dahin ging, oder zu gehen schien, in ihrNichts (wie es die Mad. Guion nennt) wieder einzugehen, alle Leidenschaften zuertöten, und alleEigenheitauszurotten.

Alle diese Personen mussten sich täglich einmal in einem großen Zimmer des Hauses zu einer Art von Gottesdienst versammlen, den der Herr von F[leischbein] selbst eingerichtet hatte, und welcher darin bestand, dass sie sich alle um einen Tisch setzten, und mit zugeschlossnen Augen, den Kopf auf den Tisch gelegt, eine halbe Stunde warteten, ob sie etwa die Stimme Gottes oder dasinnre Wort, in sich vernehmen würden. Wer dann etwas vernahm, der machte es den Übrigen bekannt.

Der Herr von F[leischbein] bestimmte auch die Lektüre[11]seiner Leute, und wer von den Knechten oder Mägden eine müßige Viertelstunde hatte, den sahe man nicht anders, als mit einer von derMad. Guion Schriften, vominnern Gebet, oder dergleichen, in der Hand, in einer nachdenkenden Stellung sitzen und lesen.

Alles, bis auf die kleinsten häuslichen Beschäftigungen, hatte in diesem Hause ein ernstes, strenges, und feierliches Ansehn. In allen Mienen glaubte manErtötung undVerleugnung, und in allen HandlungenAusgehen aus sich selbst undEingehen ins Nichts zu lesen.

Der Herr von F[leischbein] hatte si