: Arno Stern, Gerald Hüther
: Wie man Kinderbilder nicht betrachten soll
: ZS - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
: 9783965842779
: 1
: CHF 17.70
:
: Gesellschaft
: German
: 187
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Und was hast du hier gemalt?' Mit dieser Frage überrumpelt der Erwachsene das Kind, das sich an seinen bunten Spuren auf dem Papier erfreut. 'Das Auto ist dir aber toll gelungen!' So deutet und beurteilt er sein Bild. 'Na, wie sieht denn der Schornstein aus, der fällt ja gleich vom Haus runter.' So versucht er es zu belehren. Die Folgen: Das Kind malt, was der Erwachsene sehen will, es gerät in Abhängigkeit von seinem Lob oder verliert die Lust am Spiel mit Farben und Formen oft gleich ganz. Anders im Malort von Arno Stern, einem Raum der Geborgenheit, in dem sich Kinder frei von Erwartungen erleben. Dort fiel Stern auf, dass alle - ist der kunsterzieherische Ballast erst abgeworfen - ganz ähnliche Figuren malen: Ein bildnerisches Gefüge zeigt sich, das wie das Erproben des aufrechten Ganges programmiert und allen Menschen gemein ist. Erinnerungen an die Zeit vor unserer Geburt lassen sich so ausdrücken - und wer dergestalt zu seinen verlorenen Anfängen zurückkehren kann, der erstarkt daran. Arno Sterns Erkenntnisse treffen sich heute mit denen der Epigenetik, Hirnforschung und Embryologie. In seinem Buch zeigt er eindrücklich illustriert, wie Kinder malen, wenn man sie denn lässt - und was das in ihnen auslöst.

Lehrer, Lehrerinnen, Erzieher und Erzieherinnen, besonders für Euch habe ich dieses Buch geschrieben – wobei zu den Erziehern nicht zuletzt alle Eltern gehören. Ich bitte darum: Gebt Euch die Mühe, es zu lesen. Schon wenn Ihr beginnt, darin nur zu blättern, und einen Blick auf die Bilder werft – möglicherweise auf die Schema-
tafeln –, werdet Ihr verstehen, dass es Euch direkt angeht.

Ich arbeite seit mehr als60 Jahren mit Kindern – allerdings nicht im schulischen Rahmen. Als Lehrer wäre ich schon lange pensioniert und erholte mich von der mühsamen Karriere. Ich beabsichtige jedoch gar nicht, meine Tätigkeit aufzugeben, und übe sie uneingeschränkt aus wie in meiner Jugendzeit. Ich habe damals meinen Beruf erfunden. Deshalb passt er mir besser als ein von der Stange Genommener, in den man sich einleben muss.

Darf ich fragen, ob Sie von Ihrer Tätigkeit so begeistert sind wie ich von meiner1946 erfundenen Rolle und ob das Zusammensein mit Kindern für Sie eine endlos beglückende Begebenheit ist, auf die Sie sich alltäglich freuen?

Mit20 Jahren wurde mir eine Stelle in einem Heim für Kriegswaisen angeboten; mein Auftrag war es, die Kinder zu beschäftigen. Die Mittel dazu waren beschränkt in dem durch Krieg und jahrelange Besatzung ausgeplünderten Frankreich. Es galt, das knapp Vorhandene zu nutzen: aufgefundene Bleistifte, Abfallpapier usw. Ich wusste nicht, dass damit Wunder geschehen können. Denn so schien mir, dem Unerfahrenen und zugleich von keinem Vorurteil Belasteten, was dann geschah: Es war wundervoll, Zeuge der Begeisterung der Kinder zu sein – Zeuge und zugleich Ermöglicher, denn darin allein, das begriff ich sofort, bestand meine Rolle.

Das Kinderheim in Fontenay-aux-Roses19461947

Erste Einrichtung im Kinderheim. Zunächst malten die Kinder am Tisch ...

In dem als Kinderheim notdürftig eingerichteten Schloss aus dem18. Jahrhundert war von der alten Pracht kaum eine Spur übrig geblieben. Schlafsäle, Klassenzimmer, mit kargen Mitteln ausgestattet, entstellten die ehemaligen Prunksäle. Nur dem geräumigen Treppenhaus in der Mitte des Hauses haftete noch etwas von einer üppigen Lebensweise an. Aber wer bemerkte das schon? Der Sinn für das Kostbare war grundlegenden Bedürfnissen geopfert worden. Verfolgte sind keine Feinschmecker mehr, ihr dringendster Wunsch ist es, nicht zu verhungern. Der Krieg war vorüber und wer ihn überlebt hatte, war bestrebt, sich auch in der neuen Lage zurechtzufinden. Alle hier im Kinderheim waren auf wundersame Weise der Deportation entgangen. Die Mehrzahl der Kinder wie auch die als Betreuer angestellten jungen Leute waren in Klöstern oder bei Bauern versteckt gewesen und erfuhren erst jetzt, dass ihre Eltern vergast worden waren.

... später malten sie an der Wand

Sehr bald nach Kriegsende, während Nahrungsmittel noch rationiert und nur mit Lebensmittelmarken käuflich waren, wurde Farbe wieder hergestellt, und ich konnte Tempera in großen Glas