I. Hilflos
Das noch vor Kurzem Unvorstellbare ist geschehen: Der Krieg ist zurückgekehrt nach Europa. Die längste Friedensepoche, die dieser Kontinent je gesehen hat, ist zu Ende gegangen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, seit über75 Jahren, hat es den Krieg nicht gegeben, wie wir ihn jetzt als Überfall Russlands auf die Ukraine und als Angriffskrieg Putins gegen die Ukrainer erleben.
Natürlich war nicht nur Frieden in dieser Zeit, auch nicht in Europa, und es hat kriegerische Akte gegeben. Die Intervention Russlands in der Ost-Ukraine2014, die seither anhält, war unzweifelhaft eine grobe Verletzung des Völkerrechts, eine schwerwiegende Verletzung der Souveränität und der Integrität der Ukraine und ein kriegerischer Akt. Die Annexion der Krim durch Russland im gleichen Jahr war ebenfalls ein völkerrechtswidriger Gewaltakt. Seit dem Georgienkrieg2008 hält Russland erhebliche Teile von Georgien, die Regionen Abchasien und Südossetien, mit Truppen besetzt. In den1990er-Jahren gab es die Kriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien.
Aber alle diese Kriege und schwerwiegenden Gewaltakte waren anders als das, was wir jetzt erleben. Die menschlichen Opfer, das Leid und die Zerstörungen und Verwüstungen waren enorm, die Wunden sind zum Teil bis heute nicht verheilt. Politisch gesehen waren diese Kriege jedoch regional begrenzt und zielten nicht darauf ab, die politische Ordnung und die Sicherheitsarchitektur Europas zu verändern. Genau das ist in der Ukraine2022 anders. Wladimir Putin führt Krieg, wie Großmächte im19. Jahrhundert Kriege führten. Die Souveränität anderer Staaten, ihr Recht auf territoriale Integrität, ja das Völkerrecht als maßgebliche Autorität zur Regelung der Beziehungen zwischen Staaten bis hin zu dem Wunsch und dem Recht eines Volkes, als Nation zu leben – alles das sind Errungenschaften, die durch die bittersten Erfahrungen von zwei Weltkriegen gewonnen wurden. Für Wladimir Putin mit seinem imperialen Machtanspruch und völkischen Nationalismus existieren sie nicht.
Putin hat die Ukraine überfallen, aber er greift neben diesem Land auch ganz fundamental die Friedensordnung an, die in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges begründet wurde. Sie galt uns als historische Lehre aus der blutigen ersten Hälfte des20. Jahrhunderts, den beiden Weltkriegen, den Millionen von Toten als Folge von Nationalismus, völkischem Überlegenheitswahn und Militarismus.
Diese Zäsur, diese Wende in der Geschichte Europas, kam für die meisten völlig überraschend. Warum aber war für uns unvorstellbar, was Putin nicht nur schon lange geplant, sondern worüber er gesprochen und was er auch schon punktuell etwa mit der Annexion der Krim sowie dem militärischen Eindringen in die Ost-Ukraine praktiziert hat?
Bereits2008 hat Wladimir Putin dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush gegenüber erklärt, dass die Ukraine weder ein Staat noch eine Nation sei. In einem inzwischen berüchtigten Essay aus dem Jahr2021 hat er ausführlich seine Idee eines großen völkischen Verbunds von Russen, Kleinrussen, womit er die Ukrainer meint, und Belarussen dargelegt. Dass die Wiedervereinigung dieses zusammengehörenden Volkes das programmatische Ziel seiner Außenpolitik sein würde, konnte nach dieser Darstellung eigentlich niemand mehr anzweif