: Bregje Hofstede
: Einschlafen Wie eine Schlaflose die Nacht zurückerobert.
: Verlag Freies Geistesleben
: 9783772544309
: 1
: CHF 17.70
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 285
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Sie hat alles ausprobiert: angefangen bei Gute-Nacht-Tees über Ohrenstöpsel und dunkle Gardinen bis hin zu Tabletten. Doch nichts hilft. Die Schlaflosigkeit bleibt - und eine intensive Suche beginnt. In 24 (!) Kapiteln erforscht die Schriftstellerin Bregje Hofstede den Schlaf, der in ihrer Kindheit so selbstverständlich war wie Atmen und im Lauf der Jahre irgendwann abhandengekommen ist. Gekonnt schlägt sie - ausgehend von persönlichen Erfahrungen - den Bogen zu Wissenschaft, Literatur und Geschichte und betrachtet das Verhältnis zwischen Körper und Geist, Mensch und Moderne, Individuum und Gesellschaft.

Bregje Hofstede, Jahrgang 1988, studierte Kunstgeschichte und Romanistik und arbeitet als Journalistin bei De Correspondent. 2014 erschien ihr erster Roman ?De hemel boven Parijs?, der gleich für mehrere Literaturpreise, wie den Libris Literatuur Prijs, den Gouden Boekenuil, den Opzij Literatuurprijs, den ANV Debutantenprijs, den Bronzen Uil wie auch den Anton Wachterprijs nominiert wurde. 2015 erschien die deutsche Ausgabe bei C.H. Beck unter dem Titel ?Der Himmel über Paris?. 2018 erschien ihr zweiter Roman ?Drift?, der auf der Shortlist für den renommierten Libris Literatuur Prijs 2019 nominiert war. Ebenfalls bei Oktaven erschienen ist ihr Essay über Burn-Out: ?Die Wiederentdeckung des Körpers? und ihr Roman ?Verlangen?. bregjehofstede.nl
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STERNE GUCKEN


Ich war elf, als ich die Milchstraße zum ersten Mal sah. In einer Sommernacht auf dem Peloponnes, ein menschenleerer Landstrich in Griechenland, wo ich mit meinen Eltern und meinen Schwestern Urlaub machte.

Abends, nach einem Tag am Meer, liefen wir den Hügel hinauf, zu einem kleinen einfachen Lokal, das einsam zwischen Olivenhainen lag. Es war schon spät, wir hatten Hunger, und die untergehende Sonne verlieh uns zwanzig Meter lange Beine, damit wir schneller oben wären.

Während wir das gegrillte Hühnchen aßen, das «Tante Niki» uns vorgesetzt hatte, kroch die Nacht die Berge hinauf. Und ungefähr um die Zeit, als wir uns die Finger ableckten, hatte sich die Terrasse zwischen den Olivenbäumen in ein orangefarbenes Floß auf pechschwarzer See verwandelt.

Wir machten eine Taschenlampe an und wateten in die Nacht hinein.

Eine dunklere Dunkelheit hatte ich noch nie erlebt. Kein Mensch weit und breit, der holprige Weg unbeleuchtet. Die tiefe Schwärze, die uns umgab, war dermaßen von Zikadengesang erfüllt, dass man nicht mehr wusste, wo etwas anfing und wo etwas aufhörte. Ohrenbetäubende Finsternis.

Der grelle Lichtkegel, der vor uns über den Weg huschte, erhellte die Schritte meiner Eltern, aber wir, die wir wenige Meter hinter ihnen her strauchelten, hatten Mühe, den Boden vor unseren Füßen zu erkennen. Meine Schwestern und ich forderten nacheinander die Taschenlampe ein und trugen sie abwechselnd, sodass sie, ungeschickt entrissen und wieder entwunden, auf den Weg fiel und ausging.

Wir tasteten nach der Lampe. Wie die Kiesel glühte sie noch nach, wollte aber nicht wieder angehen.

Als das Nachbild des Lichtkegels auf unserer Netzhaut erloschen war, schien das Lampenlicht zerstoben und nach oben geschwebt zu sein. Über uns tauchten unzählige Sterne auf, in deren Mitte eine weiße Linie verlief.

Mein Vater vergaß seinen Ärger über die kaputte Taschenlampe und erklärte uns, was wir sahen. «Diese bandförmige Aufhellung am Nachthimmel sieht aus wie ein Streifen», sagte er, «besteht aber tatsächlich aus mehreren hundert Milliarden Sternen. Die sind Teil der Milchstraße, der Galaxie, zu der auch unsere Sonne gehört, und bilden eine riesige Spirale, von der ihr einen Ausschnitt seht. Die Sonne ist einer von Milliarden Sternen dieser Spirale. Und die Erde wiederum ein winziger Gesteinsbrocken, der um diesen einen Stern kreist.»

Ich konnte kaum glauben, was er da sagte, nämlich dass die Milchstraßeimmer da war, und wir sie zu Hause bloß nichtsahen. Ich fand es verrückt, dass etwas so unfassbar Großes, das auch noch Licht spendet, dennoch dem Blick entzogen werden kann, durch Straßenlaternen, Scheinwerfer, Außenwandlampen. Dass etwas so Wesentliches von etwas so Unbedeutendem unsichtbar gemacht wird.

Damals schlief ich noch gut. Ohne mir Gedanken darüber zu machen. Ich schlief, wie ich atmete.

Zwanzig Jahre später lief ich an einem Sommerabend durch Amsterdam. Es war schon spät, und ich war kurz vor Ladenschluss unterwegs zum Supermarkt. Mofas knatterten im schmutzig gelben Dämmerlicht an mir vorbei.