1Gold
Der Tag, an dem Elias das Märchen fand, war der erste wirklich goldene Tag des Herbstes.
Es war ein windiger Tag, ein Tag voller zerrissener graublauer Wolken, und vor dem Himmel wirbelte das Gold. Fetzen, Scherben, Blattgold: Goldblätter. Die Luft war voll davon.
Sie hatten Sturm angesagt.
Er mochte Sturm.
Er war mit dem Rad zum Strand hinausgefahren, und er fühlte sich betrunken vom Wind. Zwischen den Zehen spürte er den Sand, er hatte Turnschuhe und Socken ausgezogen. Es war natürlich kindisch, barfuß durch den Oktobersand zu laufen, wenn man beinahe achtzehn war. Egal, niemand sah ihn.
Bis auf den Hund.
Aber der Hund trug schließlich auch keine Schuhe.
Sie waren oft zusammen kindisch, er und der Hund, sie durchstreiften die Wälder, seit er ein kleiner Junge und der Hund ein Welpe war. Jetzt war der Hund alt. Ein Wolfshund. Manche Spaziergänger erschraken, wenn sie ihn sahen, weil sie ihn für einen echten Wolf hielten. Elias erklärte ihnen geduldig, dass er keiner war. Und er hörte aufs Wort, wenn man pfiff, kam er angesaust wie ein Komet. Kometenhund. Micha hatte das gesagt.
Früher war sie oft mit Elias und dem Hund durch die Wälder gewandert. Sie hatten den Hund zusammen erzogen, sie war dreizehn gewesen und er sechs, und sie war ihm immer so erwachsen vorgekommen.
Sie hatte gesagt, sie könnten sich heute hier treffen, mal wieder zusammen spazieren gehen, sie bräuchte eine Pause vom Lernen fürs Examen. Die Uni fraß sie auf.
Sie würde mit ihm barfuß durch den Sand laufen, Micha war auch gerne kindisch.
Er sah auf sein Handy. Er hatte noch Zeit, bis sie kam.
Er würde zur Landspitze hinauswandern, wo der Wind am stärksten war, und vielleicht konnte er filmen: die dunklen Kiefern, die rotgoldenen Herbstbuchen: Sie waren Kunstwerke. Er musste das Handy benutzen, die Kamera lag zu Hause.
Die Filme waren so eine Sache; er hatte immer schon Dinge gesehen, die andere Menschen nicht sahen, winzige Dinge, schöne Dinge, Ausschnitte. Manchmal auch schlimme Dinge.
Auf seinem Rücken steckte in ihrer alten braunen Hülle die Gitarre, die ihn begleitete wie der Hund. Die auch die Filme begleitete. Aber eigentlich hatte er sie dabei, weil Micha ihn gebeten hatte, für sie zu spielen.
Für die Filme gab es Regeln: Erstens, sie durften nicht länger sein als eine Minute. Zweitens, sie mussten ästhetisch sein. Drittens, sie mussten etwas aussagen, das er formulieren konnte, aber niemals formulieren würde, denn darauf kam der Betrachter entweder selbst, oder der Film war Müll. Und viertens: Es würde keine Betrachter geben.
Noch nicht.
Er war noch nicht perfekt.
Eines Tages, wenn er gut genug war, würde er versuchen, auf der Filmhochschule aufgenommen zu werden.
Er warf einen Stock für den Hund, der davonraste, wanderte durch den Goldwald und suchte Bildausschnitte: brechende Äste, wirbelnde Bewegung, Schönheit und Zerstörung.
Zur Linken blitzte das blaue Wasser durch die Stämme, die Wellen trugen weiße Schaumkronen, fast kitschig, märchenhaft. Vielleicht waren seine Kurzfilme Märchen: schön und symbolbeladen.
Sein Vater hatte Märchen erzählt.
Aber manche Märchen waren zu traurig.
Er war so alt gewesen wie Elias jetzt, als er sich das Leben genommen hatte. Er hatte nichts von Elias Existenz gewusst.
Der Hund war wieder da, hechelnd, stolz, und Elias grinste und nahm ihm den Stock ab.
»Das ist überhaupt nicht der, den ich geworfen habe«, sagte er. »Du schummelst.«
Er warf den Stock noch einmal, in dem Wissen, dass der Hund, dessen Geruchssinn nachließ, ihm einen anderen bringen würde. Er würde beim nächsten Mal so tun, als merke er es nicht. Er fing den Hund mit dem Auge des Handys ein, seinen Übermut, die Sprünge, die er trotz seines Alters vollführte.
Die Blattgoldfetzen im Wind.
Das Meer zwischen den Stämmen.
Wellen, auf denen weiße Schwäne wippten.
Und dann, als er am Ende des Strandes war, wurde der Wind zum Sturm, und Elias stand da und begrüßte ihn. Wolken verdunkelten den Himmel, Böen bliesen ihm das helle Haar ins Gesicht, er sah nicht mehr, was er filmte. Er rief den Hund, steckte das Handy ein und stemmte sich gegen den Wind, der die Bäume bog. Äste fielen krachend im Wald hinter der Küste.
Es geschah, dachte er mit plötzlicher Sorge, zu schnell.
Er war sich nicht mehr sicher, dass es eine gut