Teil I: Wurzeln
Kinder der Armut
Der Hamburger Sommer 1892 war heiß und seine großen Gewässer Alster und Elbe erwärmten sich auf über 20 Grad. In den engen Gassen des Gängeviertels und anderer Arbeiterquartiere ertrugen die Menschen die Sommerhitze nur schwer. Auch stellten sich die im Sommer gehäuften Verdauungsprobleme ein. Die Abwässer landeten in den Fleeten und verbreiteten einen elenden Gestank. Und auch das Hamburger Trinkwasser, das der Elbe entnommen wurde, war durch mitgeführten Schmutz sowie tierische und pflanzliche Organismen trübe und unrein. Der Naturfreund Hartwig Petersen wies in den 1870er Jahren 18 Tierspezies von kleinen Schnecken bis hin zu Fischen und dem Aal im Trinkwasser nach. Es gab in der Stadt aber nichts anderes und so war selbst diese widerliche Brühe in der sommerlichen Hitze die einzige Quelle.{1}
Am 15. August inspizierte der bei der Stadt angestellte Bauarbeiter Sahling wie üblich die Sieleinläufe und drehte dabei seine Runde über den gesamten Grasbrook. Auf dem Heimweg von der Arbeit fühlte er sich nicht gut und erkrankte wenig später heftig an Durchfall und Erbrechen. Der ihn behandelnde Arzt diagnostizierte die asiatische Cholera. Allerdings gelang ihm nicht der bakteriologische Nachweis, so dass nach dem Tod des Patienten noch am selben Tag als Todesursache „Brechdurchfall“ vermerkt wurde.
Diese Zeit erforderte bei den Ärzten eine erhöhte Aufmerksamkeit. Ein paar Jahre zuvor hatte Robert Koch den Erreger der Tuberkulose entdeckt, der damals häufigsten Infektionskrankheit mit tödlichem Ausgang. Und auch der Erreger der Cholera war damals bereits bekannt. Bei Verdachtsfällen waren zum Nachweis des Erregers seine Isolierung vom Kranken und eine anschließende Kultivierung erforderlich. Allerdings hatten sich dieser wissenschaftliche Fortschritt und die darauf beruhenden Maßnahmen zu einer Eindämmung der Infektion noch nicht bei allen Ärzten und vor allem nicht bei verantwortlichen Politikern im deutschen Reich durchgesetzt.
In den Tagen nach dem Tod des Arbeiters Sahling häuften sich die Fälle mit eindeutigen Symptomen der asiatischen Cholera. Immer mehr Meldungen von Ärzten und Krankenhäusern liefen bei dem Leiter der Hamburger Gesundheitsbehörde ein. Doch dieser reagierte nicht, da er die Erkrankten als Einzelfälle bewertete. Auch nach dem gelungenen bakteriologischen Nachweis war er nicht überzeugt. So erfolgte erst eine Woche nach dem ersten Verdachtsfall die Meldung an die zuständige Reichsbehörde. Und es dauerte weitere zwei Tage, bis der Hamburger Senat sich mit dem Thema befasste. Es verstrich damit wertvolle Zeit, in der Schutzmaßnahmen hätten ergriffen und Verhaltensregeln für die Bevölkerung bekannt gegeben werden können. So verbreitete sich der Erreger aus Abwässern in der hochsommerlich warmen Elbe und erreichte um den 19. oder 20. August den Haupteinlass der Hamburger Trinkwasserversorgung. Der „blaue Tod“{2} wanderte durch die Wasserleitungen in die Trinkbecher der Hamburger. Am 21. August wurden für diesen Tag 113 neue Fälle gemeldet, 17 Erkrankte starben. In den Folgetagen eskalierte die Infektionsrate und erreichte am Monatsende ihren Höhepunkt mit rund eintausend Neuerkrankten pro Tag. Am 24. August traf der von der Reichsregierung entsandte Robert Koch in Hamburg ein und war fassungslos über den Dilettantismus, mit der der Senat und seine für die Gesundheit zuständigen Fachbeamten den Ausbruch der Epidemie bewerteten und darauf reagierten. Erst auf sein Drängen hin wurden Maßnahmen ergriffen. Nach diesen Erlebnissen mit den Verantwortlichen und einer Inspektion des Gängeviertels, die ihn offenbar an seine Erlebnisse während der Cholera-Ausbrüche in Alexandria und Kalkutta erinnerte, äußerte er seine bekannt gewordenen Worte zur Kritik an den politischen und sozialen Verhältnissen der Stadt: „Meine Herren, ich vergesse, daß ich in Europa bin.“{3}
Nach dem öffentlichen Bekanntwerden des Cholera-Ausbruchs in Hamburg brach der Warenverkehr durch Quarantänemaßnahmen zusammen. Schiffe liefen den Hafen nicht mehr an und konnten ihn nicht verlassen. Auch auf dem Landweg gab es Einschränkungen. Die Auswirkungen auf die übrigen Wirtschaftssektoren ließen nicht lange auf sich warten. Die Überlebenden der Epidemie erfasste eine Welle der Arbeitslosigkeit und stürzte sie ins materielle Elend.
Die Cholera raffte über 8600 Menschen dahin und setzte sich damit an die Spitze der Todesursachen des Jahres 1892, gefolgt von Säuglings- und Kinderkrankheiten, Tuberkulose und anderen Infektionskrankheiten. Verstorbene Eltern hinterließen 4867 Kinder, die ganz oder halb verwaist waren und versorgt werden mussten.{4}
Um Kinder, die nicht mehr bei ihren Eltern leben konnten, kümmerte sich damals das Waisenhauskollegium, das erstmals am 14. November 1600 gebildet wurde und aus drei Senatoren und acht Bürgern bestand.{5} Es hatte damals die Aufgabe, in Hamburg das erste Waisenhaus zu errichten und zu betreiben. Finanziert wurde es aus Spenden von Privatpersonen und der Kirchen. Neben den ehrenamtlichen Vorstehern waren bei der Gründung auch ein angestellter Hausherr mit Ehefrau sowie ein Lehrer für die Betreuung der Kinder vorgesehen. Das Haus war für ehelich geborene Kinder im Alter von 4 bis 10 Jahren vorgesehen, deren Eltern verstorben waren oder nicht mehr für sie sorgen konnten. Aber auch Kinder von Hingerichteten oder Findelkinder fanden hier eine Aufnahme. Für unter 4jährige wurden Pflegefamilien gesucht und für die Erziehung