Kapitel 1
Erebos, Jahr2517 nach Damianos, dritter Mond des Frühlings, Tag 29
»Zeig Damianos gegenüber niemals Schwäche.«
Kieran hatte sich stets an Steels Worte gehalten. Der Weißmagier vom Clan der Hunolds, der ihn und seine Mutter nach Temeduron gebracht und ihn dort Damianos als Lehrling überlassen hatte, war gewissermaßen sein erster Mentor gewesen. Viele seiner Ratschläge hatte er angenommen und sich»Furchtlos ist, wer mit der Angst im Herzen weitergeht« in sein Herz tätowiert. Und gemäß diesem Leitspruch hatte er sich in unmögliche Gefahren gestürzt, um seinen Zwillingsbruder zu retten, und gleichzeitig den Drahtseilakt bewältigt, seinen Meister von seiner Loyalität zu überzeugen. Es war ihm gelungen, Finn von Steels Anwesen Ash Hall nach dem Kampf der Weißmagier zu entführen und den Draugr Oisinn als Verbündeten zu gewinnen, der seinen Bruder im letzten Augenblick vor Damianos gerettet hatte. Vor wenigen Minuten war Kieran der Meinung gewesen, alles richtig gemacht zu haben.
Er war ja so ein Schwachkopf!
Wie hatte er Damianos nur so unterschätzen können?
Wie hatte der im Kampf um Ash Hall getötete Duncan Steel den wichtigsten Ratschlag überhaupt vergessen können?
Zeig Damianos niemals, für wen dein Herz schlägt.
Denn genau das hatte er getan. Vor über vier Monaten war Kieran ein winziger Gedanke entschlüpft, als sein Meister in seinen Kopf eingedrungen war. Vier verdammte Monate! Kieran hatte sich gar nicht mehr daran erinnert, dass er sich gewünscht hatte, er könnte seine Jugendfreundin Serafina bei seinem ersten Ausflug mit dem Drachen Onyx wiedersehen. Aber Damianos war einuraltes Wesen – wie sein Vater zu sagen pflegte. Vier Monate waren eine lächerlich kurze Zeitspanne für einen Mann, der seit über2500 Jahren lebte. Zumindest war sein Vater jetzt vorläufig vor der Grausamkeit seines Meisters sicher. Damianos hatte ihn als Belohnung für Kierans angebliche Treue und dessen Bemühungen, ihm Finn auszuliefern, freigelassen.
Stattdessen hatte er Serafina hierherverschleppt, und damit hätte Kieran niemals gerechnet.
An den Händen gefesselt stand sie neben einem höhnisch grinsenden Dermoth im Hof von Temeduron. Kieran achtete jedoch nicht auf Damianos’ Statthalter. Um ihn würde er sich später kümmern. Ihr Gewand war von dem langen Ritt zur Festung staubig, die rotblonden Locken, deren Feuer er so sehr liebte, zerzaust, und dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Serafinas Blick heftete sich fest auf ihn, bohrte sich mitten in sein Herz, und die Kälte darin ließ ihn schaudern.
Wut über sein Versagen und Hass auf seinen Meister trafen Kieran mit voller Wucht und setzten etwas Dunkles in ihm frei, so mächtig, dass er glaubte, daran zu ersticken und die Kontrolle über seine Magie zu verlieren. Schmerz schoss brutal in seinen Kopf, und er musste blinzeln, weil die Welt um ihn herum plötzlich zerriss, unscharf wurde und dunkle Flecken sein Sichtfeld verengten. Und dann wurde die Umgebung wieder klar, schärfer als jemals zuvor, und er fühlte seine Magie in einer ungeahnten Intensität. Sekundenlang umfloss sie ihn wie ein magischer Schild in einer finsteren, seinen Körper von Kopf bis Fuß umflirrenden Aura.
Kieran wagte nicht, Serafinas Reaktion zu überprüfen, sondern konzentrierte sich lieber auf seine Atmung, um die Magie wieder in den Griff zu bekommen. Tiefschwarz. Er hatte immer gefühlt, dass er nicht zum Weißmagier bestimmt war – was leider auch Dermoth und sein Meister mitbekommen hatten. Ersterer riss in Unglauben die Augen auf, und Damianos lächelte zufrieden.
»Gut so, Lehrling«, raunte er neben ihm in widerlich väterlichem Stolz. »Befreie endlich die Finsternis in dir. Sie ist der Schlüssel zu deiner Vollendung, zum Höhepunkt deine