Kapitel 1
Seit drei Jahren komme ich nach Hause, wenn meine Familie morgens aufsteht. Manchmal – so wie heute – bin ich so spät, dass mir in den dunstigen Gassen bereits die ersten Arbeiter entgegenkommen. Schlachter, Fabrikarbeiter, Tagelöhner, die Ärmsten der Armen. Ihr Tag beginnt, wenn die Menschen aus der reichenBourgeoisie nach ihren ausschweifenden Nächten schlafen gehen. Niemand beachtet mich, weil ich längst meine Verkleidung gegen das von Mama geerbte Baumwollkleid getauscht habe, das schon nicht en vogue war, als sie es1890 gekauft hat. Während ich versuche, den zerfetzten Rocksaum aus den Pfützen herauszuhalten, bin ich wieder eine von ihnen.
Nach einer Nacht mit viel schwerem Wein, blumigem Eau de Parfum und dem Duft nach Ausgelassenheit muss ich mich zusammenreißen, mir nicht die Nase zuzuhalten. Sind alle anderen gegen den Gestank aus den Fabrikschlöten und mangelhaften Abwasserkanälen immun? Eigentlich dürfte mich das nicht wundern. Die Regierung von Paris zählt unseren Häuserblock im ArrondissementL’Hadès nicht grundlos zu den heruntergekommenenîlots insalubres. In den windschiefen Baracken, die Handwerker vor Jahrzehnten ohne Stadtplanung und fließendes Wasser zusammengezimmert haben, sollte heute niemand mehr wohnen.
Und doch erklimme ich die schmale Treppe genau so eines Hauses, das am Rande vonL’Hadès kauert. Früher habe ich versucht, die knarzende Tür zu unserem Appartement leise zu öffnen. Doch wie immer in den letzten Wochen schallt Papas Husten bis auf den Flur. Dem Lärm meiner kleinen Geschwister nach zu urteilen, war sein Anfall heute wieder heftig genug, um sie noch vor Morgengrauen zu wecken. Und tatsächlich, ich schließe die Tür auf, und mein Bruder Henri fällt mir fertig angezogen und halbwegs gekämmt in die Arme. Mit elf ist er ein wenig zu alt für diese Anhänglichkeit, und vor seinen Freunden würde er sich nie so zeigen. Doch ich bin froh, dass er die Zuneigung noch nicht gegen jugendliche Gleichgültigkeit ausgetauscht hat.
Ich umarme ihn fest, bis seine Füße vom Boden abheben. »Hast du deine Schulaufgaben erledigt?«
Henri stöhnt und windet sich aus meiner Umarmung. »Natürlich, Oberlehrerin Odette!«
»Nicht so frech!« Ich schließe die Tür und nehme dann Mamas Topf mit gefährlich brodelndem Haferschleim vom Herd, während sie versucht, meine kleine Schwester Joséphine in ihr Kleid zu zwängen. Ich knie mich neben sie, um sie im Kampf gegen die mit Wuttränen übergossene Jo zu unterstützen. Für ein sechsjähriges Mädchen entwickelt sie erstaunliche Kräfte, wenn es darum geht, sich gegen ihre Kleider zu wehren. »Sagt Henri die Wahrheit?«, flüstere ich Mama zu.
»Mathilde hat die Aufgaben kontrolliert.« Sie deutet mit dem Kinn auf die Zweitälteste von uns Geschwistern. Dann streicht sie eine dunkle Strähne, die sich aus ihrem notdürftigen Haarknoten gelöst hat, aus ihrem schmalen, immer sonnengeküssten Gesicht. »Glaube ich«, fügt sie ein wenig entschuldigend hinzu.
»Mama«, stöhne ich und richte mich auf, doch sie beachtet mich schon nicht mehr. Henrimuss gute Noten bekommen. Meine Familie kann von fünf Geschwistern nur einen zurUniversité schicken. Und bei vier Mädchen und einem Jungen st