Kapitel 1
Ein Jahr später
Colton Wheeler lebte nach ein paar einfachen Grundsätzen, und einer davon lautete: Wenn dich jemand bittet, ein Geheimnis zu wahren, dann nimmst du es mit ins Grab. Deshalb war der Verrat wie ein Schlag in den Magen. Ausgerechnet die Jungs hatten ihr Wort nicht gehalten. Seine angeblich besten Freunde.
Wütend rückte er den Riemen seiner Sporttasche höher auf die Schulter. «Ihr habt versprochen, es keinem zu sagen.»
«Ach komm, Mann», sagte Gavin Scott mit der Yogamatte unter dem Arm. Er trug ein ärmelloses Trainingsshirt, sodass der Unterschied zwischen seiner käseweißen Schulter und der permanenten Bräune seiner Arme deutlich zu sehen war. «Es ist ja nicht so, als hätten wir es wildfremden Leuten erzählt.»
«Es spielt keine Rolle, wer die sind. Ich habe ihr versprochen, es für mich zu behalten.»
«Wir wollten dich nicht in eine unangenehme Lage bringen», warf Del Hicks ein. «Ehrlich.»
«Wir haben nicht mal damit gerechnet, dass du hier sein würdest», fügte Gavin sichtlich schmollend hinzu.
«Warum sollte ich nicht?»
«Wegen des Meetings. Ist das nicht heute?»
Ah, ja.Das Meeting. Es hatte eine so erniedrigende Bedeutung, dass es mittlerweile schon alsdas Meeting bezeichnet wurde. Jenes Meeting, bei dem sich herausstellen würde, ob er noch eine Karriere hatte. Das wussten seine Freunde allerdings nicht. Sie wussten nur, dass er sich mit dem Musiklabel traf, um nach zwei Jahren Pause über sein nächstes Album zu reden.
Plötzlich bekam er deswegen ein schlechtes Gewissen. Etwas, das ihm im Laufe des letzten Jahres vertraut geworden war. Wie konnte er von den Jungs erwarten, sich an die Regeln der Freundschaft zu halten, wenn er selbst jeden Tag gegen sie verstieß, indem er ihnen gewisse Dinge verheimlichte?
Für einen weltbekannten Country-Star war es schwer, echte Freunde zu finden. Er hatte die Jungs in einem höchst ungewöhnlichen Zusammenhang kennengelernt: durch Liebesromane. Sie nannten sich den Secret Book Club und lasen zusammen Liebesromane, weil sie lernen wollten, die Welt durch eine weniger toxische Brille zu sehen als jene, die alle cisgender Heteromänner von der Gesellschaft aufgesetzt bekamen. Braden Mack hatte damit angefangen und Colton überredet mitzumachen. Er war skeptisch gewesen, wie die meisten der Jungs, als sie dem Club beitraten. Aber Colton hatte schnell erkannt, dass es um viel mehr ging als nur die Bücher. Es ging um Kameradschaft und Brüderlichkeit. Anhand der Liebesromane lernten sie, bessere Männer, bessere Partner und untereinander bessere Freunde zu sein.
«Ist okay», seufzte er schließlich. «Ich rede mit …»
«Mr Wheeler, was hat das zu bedeuten?»
… ihr.
Scheiße. Colton wappnete sich beim Umdrehen und blickte dem einschüchterndsten Menschen, den er kannte, direkt in die Augen. Peggy Porth. Pensionierte Grundschuldirektorin mit Medusenblick.
Und Trainerin der Silver Sneakers.
«Hallo, Mrs Porth.» Coltons Stimme kiekste plötzlich wie damals in der fünften Klasse, als man ihn dabei erwischt hatte, wie er Pokémon-Karten in den Ferien zum doppelten Marktpreis verkaufte. Zu seiner Verteidigung: Er hatte das Geld gebraucht, um Weihnachtsgeschenke für seine Geschwister zu kaufen.
Mrs Porth war nur eins einundsechzig groß, schaffte es aber irgendwie, wenn sie mit ihm sprach, von oben auf ihn herabzureden. «Muss ich Sie daran erinnern, Mr Wheeler, dass Sie mich fragten, ob Sie ein paar Freunde zu unserem Kurs mitbringen dürften,